In ihrem zwölften Jahresrückblick stellen die Brauseboys erstmals positive Nachrichten ins Zentrum: Berlin hat neue Pandas! Orkantief Xavier sorgt für Vollbeschäftigung in der Forstwirtschaft! Air Berlin senkt seine Klima-Emissionen auf Null! Trumps Frisur hat das ganze Jahr gehalten! Weder er noch Kim Jong-Un haben den 3. Weltkrieg begonnen! Noch nie wollten so viele Parteien in Deutschland nicht regieren! Im zweiten Teil präsentieren wir hier Texte aus dem Herbst und dem Winter.
Herbst
Erkenntnis vor schlafloser Nacht In der Straßenbahn zeigt ein Junge mit großer Zahnlücke seiner Schwester und der Mutter den Vogel. „Es gibt keine Zahnfee!“, ruft er empört. „Seid ihr behindert?“
(Thilo Bock)
real,-Estate
„Guten Tag, hätten Sie kurz Zeit? Ich möchte Ihnen etwas empfehlen.“
„Ich würde mir ja selba empfehlen, da nich druff einzujehn, aber in Ordnung – weil heute verkaufsoffener Sonntag is.“
„Es ist doch aber Mittwoch?“
„Junger Mann, ick weeß, ‘Carpe Diem’ erscheint Ihnen jetzt noch wie’n Witz, aber dit ändert sich. Ihre Zeit looft ab.“
„Wohnen Sie hier im Kiez?“
„Seh ick aus wie’n Tourist? Ick helf’ Ihnen mal: Wat wolln Se mir denn empfehlen?“
“Eine neue Wohnung! Hier gleich über dem Supermarkt.“
„Uffm Supermarkt? Seh’ ick aus wie ‘ne Taube?“
„Was?“
„Ne Taube.“
„Ne Taube?“
„Sind Se taub?“
„Nein, aber ich verstehe nicht ganz…“
„Sind Sie ‘ne Taube?“
„Der Vogel? Ich denke nicht.“
„Sehn Se, da ham wir endlich wat jemeinsam. Also warum soll ick uffm Dach wohnen?“
„Eine günstige Miete, ein Parkplatz, zentrale Lage und… direkten Supermarktanschluss! Na, wie wär’s?“
„Ach, wenn der Weg zum Einkoofen wegfällt, beweg’ ick mich janich mehr. Nee, ehrlich, uff som Blechdach wohnen wär mir ooch’n bisschen zugig.“
„Aber wir bauen da doch Wohnungen drauf.“
„Ach so, sagen Se dit doch gleich. Jibs da ooch Treuepunkte uff die Miete?“
„Öh, vielleicht.“
„Na, klärn Se dit mal.“
(Frank Sorge)
Halloween
Ich bin ja ein großer Freund von Halloween. Das Geschimpfe von Käßmann & Co. darauf ist nur einer von vielen Gründen, warum ich das Fest so sehr mag. Deswegen habe ich natürlich auch in diesem Jahr alles bereitgestellt, wenn die Kinder nachher kommen und „Süßes oder Saures“ piepsen. Zwei Tüten Werthers Echte für 1,99 Euro das Stück, da klingeln die Kassen fürs böse Kommerzfest. Ich sitze am Schreibtisch und warte darauf, dass endlich Kinder bei mir vorbeikommen. Um 18 Uhr beginne ich, ich mich zu wundern. Es ist längst dunkel, aber es ist noch immer nichts passiert. Ich gehe misstrauisch an die Tür und klingele – doch, funktioniert. Na gut, warten wir eben weiter. 18.30 Uhr. Kein Kind klingelt. Verdammt, sonst um die Zeit war ich die erste Tüte Bonbons doch schon los. Was ist denn los da draußen? Sind die plötzlich alle evangelisch geworden oder was? 19 Uhr. Immer noch komplette Kinderlosigkeit. Es ist so deprimierend. Um 19.30 Uhr reicht es mir. Entschlossen packe ich meine Karamellbonbons ein und ziehe los. Als ich draußen vor die Haustür trete, bin ich zunächst kurz irritiert. Es ist einiges los auf der Seestraße, und ganz offensichtlich sind zahlreiche Grüppchen von Horrorgestalten unterwegs. Warum denn bloß haben die diesmal nicht bei mir geklingelt? Dann schaue ich noch mal genauer hin und sehe: Ach nein, das sind doch bloß die ganz normalen Weddinger.
Dann setze ich mir eine Darth-Vader-Maske auf und klingele bei Erem, einem Jungen aus der Nachbarschaft. Perfekt: Er ist zu Hause und macht mir sogar die Tür auf. „Nimm mein Süßes, sonst gibt es Saures“, fahre ich ihn zur Begrüßung an. Aber noch ehe ich die Werther’s Echte aus meinem Leinenbeutel fingern kann, steht Erems Vater an der Tür, mit einer Hand voller Süßigkeiten, die er mir dort hineinstopft. Dann guckt er kurz irritiert zu mir hoch und sagt: „Warte, Junge, ich habe noch mehr. Du siehst aus, als könntest du auch etwas mehr vertragen.“ Verdammt.
Auch bei der Tochter der Lenkowskis verläuft der Besuch nicht planmäßig. Die Mutter macht auf, erkennt mich und seufzt, „Paula ist nicht da. Die wollte zu den Großeltern nach Köln, um hier Halloween nicht herumlaufen zu müssen. Sie sagt, das ist ihr zu anstrengend für die paar Kamellen, sie hat ja noch nicht mal die vom Karnevalsbesuch bei Oma auf bislang.“
Bei Pascal von den Schulzes gegenüber immerhin habe ich Glück, der Junge ist da und kommt erwartungsvoll zur Tür gelaufen. Die Darth-Vader-Maske findet er cool, die Werther’s Echten will er trotzdem nicht. „Och nö, ich steh nicht so auf Bonbons, das ist doch langweilig. Hast du nichts Ordentliches dabei?“ „Was Ordentliches?“ Ich staune. Ist es doch schon so schlimm mit dem Konsumdenken der Kinder? „Heute Nachmittag waren wir beim Kindergottesdienst in der evangelischen Kirche, da gab es wenigstens eine Luther-Playmobil-Figur für jeden!“
Deprimiert will ich davon schleichen, als nebenan die Wohnungstür aufgeht. Eine ältere Dame steht darin. „Entschuldigen Sie“, schnarrt sie, „ich habe das gerade nur mit halbem Ohr mitbekommen. Sind Sie wegen Halloween da?“ Erstaunt schaue ich sie an. „Äh … ja, irgendwie schon, aber …“, versuche ich zu erklären, aber da schüttet sie mir schon einen Haufen Bonbons in meinen Beutel. „Na endlich!“, sagt sie, „und ich dachte schon, es kommt heute gar keiner mehr.“
(Heiko Werning)
Wieder mal Mittelpromenade Teil 359
„Die Currywurst mit Darm oder ohne?“
„Normal“
„Normal sind beide. Ich wollte wissen, ob mit Darm oder ohne?“
„Ich nehme die normal.“
„Ein letztes Mal: Mit oder ohne?“
„Nicht scharfgewürzt. Normal.“
„Also gut, mit Darm. Kommt auf die Pommes was drauf?“
„Senf.“
„Senf?“
„Ja, Senf.“
„Okay.“
„Moment, ich habe mich geirrt. Ich will Mayonnaise auf die Pommes und Senf auf die Currywurst.“
„Senf auf die Currywurst?“
„Ja.“
„Mit Verlaub, sie sind pervers. Aber wenn es ihnen bekommt, sollen sie haben, was sie wollen.“
(Robert Rescue)
Winter
Advent, Advent, das Marktlicht brennt
Der Mann vor mir an der Kasse, nach Ansicht eines Infozettels: “Oh, Sonntag ist verkaufsoffen?”
Verkäuferin: “Ja.”
Der Mann: “Sonntag, wirklich?”
Verkäuferin: “Ja, da wollen alle einkaufen.”
Der Mann: “Am Sonntag, wirklich?”
Verkäuferin: “Nein.”
Der Mann: “Ach so, aber es ist offen?”
Verkäuferin: “Ist doch toll.”
Der Mann: “Ja.”
Verkäuferin schweigt.
Der Mann: “Ist das denn immer?”
Verkäuferin: “Nein, nur diesen und zwei Wochen später.”
Der Mann schweigt.
Ich denke: “Frag nicht warum, frag nicht warum, frag nicht warum.”
Der Mann: “Warum?”
Verkäuferin: “Ostern.”
Der Mann nickt verhalten, bezahlt und geht. Vielleicht geht ihm ja Sonntag ein Licht auf.
(Frank Sorge)
Karstadt
Bei den Kindern deutet sich eine Sprachexplosion an, aus den ersten hundert Einzelwörtern werden Kombinationen gebildet und täglich neue Partikel dazugelernt. Das ist so wundersam zu beobachten, wie das Zusammenfinden erster Eiweißpartikel zu primitiven Bakterien, die einen mit Leben überwucherten Planeten ergeben. Auch der Urknall stinkt dagegen im Grunde ab, mangels staunender Zuschauer. Als Papa Poetus achte ich natürlich darauf, dass ihr erster Sprachteich der Erkenntnis möglichst naturbelassen bleibt. Ein sicheres Terrain bildet, ein elementarer Grundstock, bevor der ganze Wahnsinn unserer globalen Sprachexplosion über sie hereinbricht.
“Kommt, Kinder, wir gehen noch zu Karstadt”, sagen wir unbedarft, und mein Sohn reckt freudig den Kopf nach vorne und sagt: “Karstadt.”
“Wow, er hat Karstadt gesagt”, sagt meine Freundin, darauf er: “Karstadt, Karstadt, Karstadt.”
“Puh, willst du nicht lieber was anderes sagen”, versuche ich abzulenken, “ein schöneres Wort, wie gestern zum Beispiel: Eichhörnchen. Sag doch noch mal Eichhörnchen!”
“Karstadt.”
Ob er überhaupt weiß, was Karstadt ist, fragen wir uns auf dem Weg die Müllerstraße entlang. “Guck mal, ein Kran”, rufe ich Richtung Kinderwagen. Aus dem aber dringt nur heraus: Karstadt.
In Sichtweite des Kaufhauses dann die Gewissheit. Er zeigt sogar drauf. Die Box mit dem Kinderpuzzle, die wir dort erwerben, hält er den ganzen Rückweg in festem Griff. Und auch beim Einschlafen hören wir ihn leise säuseln: Karstadt. Es liegt nicht mehr in unserer Hand.
(Frank Sorge)
Worst Talk mit Miriam
„Wie geht es dir?”, fragt mich Miriam am Tresen der Stammkneipe. Ich ziehe ein Gesicht, denn ich kann diese Frage nicht leiden. Die Leute wollen ein „Gut“ oder „Schlecht“ hören. Bei „Gut“ sagen sie „Och, wie schön“ und bei „Schlecht“ antworten sie gar nicht. „Weißt du, wenn du mit mir hier im Laden zu tun hast, dann musst du so eine Frage erwarten. Ich will wissen, wie es den Leuten geht. Darauf musst du dich einstellen, dass ich absolut wissen will, wie es den Leuten geht.”
Floskel, denke ich und überlege, ihr das zu sagen. Wenn sie eine ehrliche Antwort will, werden wir ein langes Gespräch haben. Ich kann es verkürzen, indem ich ihr die Antwort gebe, die sie erwartet: „Gut.” Aber darauf habe ich keine Lust. Keine Lust auf ihre Frage und meine Antwort. Außerdem wäre meine Antwort gelogen. „Ich habe neulich eine Geschichte geschrieben”, beginne ich und will ihr ein Fallbeispiel nennen, wie ich mit dieser Floskel sonst umgehe.
„Wann tauche ich mal in einer deiner Geschichten auf?”, unterbricht sie mich. „Ich bin schon in einem seiner Texte aufgetaucht”, meint Klaus, der neben uns steht. „Nicht gut weggekommen, wenn ich mich recht entsinne.“
„Zu Recht“, sage ich in seine Richtung. Dann wende ich mich wieder Miriam zu.
„Also in der Geschichte geht es darum, wie ich bei meinem Nachbarn klingele …”
„… Warte, ich muss mir gerade eine Audio-Nachricht speichern”, unterbricht Miriam. Sie nimmt ihr Smartphone, steht auf und geht in den Nebenraum. Gut, denke ich, das Gespräch ist zu Ende und sie hat sich 15 Sekunden Zeit für mich genommen.
(Robert Rescue)
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Thilo Bock, Robert Rescue, Frank Sorge, Volker Surmann und Heiko Werning ziehen ihr Fazit aus 2017: „Sollte auch morgen die Welt untergehn, lasset uns heute noch Pandas ansehn!“
Vom Dienstag, 26.12. bis Samstag, 06.01., täglich um 20 Uhr
Nachmittagsvorstellungen: Fr. 29.12. – So. 31.12., täglich um 16 Uhr
Silvester-Matinée: So. 31.12., 12 Uhr
Bis zum 6.1.2018 sind die Brauseboys fast täglich mit ihrem Jahresrückblick Auf Nimmerwiedersehen 2017 im Kookaburra. Schönhauser Allee 184. Berlin-Prenzlauer Berg.