Mastodon

Das Jahr aus Sicht der Brauseboys (Teil 1)

28. Dezember 2017
Früh­ling im Wedding

In ihrem zwölf­ten Jah­res­rück­blick stel­len die Brau­se­boys erst­mals posi­ti­ve Nach­rich­ten ins Zen­trum: Ber­lin hat neue Pan­das! Orkan­tief Xavier sorgt für Voll­be­schäf­ti­gung in der Forst­wirt­schaft! Air Ber­lin senkt sei­ne Kli­ma-Emis­sio­nen auf Null! Trumps Fri­sur hat das gan­ze Jahr gehal­ten! Weder er noch Kim Jong-Un haben den 3. Welt­krieg begon­nen! Noch nie woll­ten so vie­le Par­tei­en in Deutsch­land nicht regie­ren! Im ers­ten Teil prä­sen­tie­ren wir hier Tex­te aus dem Früh­ling und Sommer. 

Frühling

Eiskaltes Lächeln

Der Wed­ding gilt ja immer noch als „eines der här­tes­ten Kri­sen­ge­bie­te des Lan­des“ (Der Spie­gel), aber ob es im inzwi­schen super­bür­ger­li­chen benach­bar­ten Prenz­lau­er Berg wirk­lich um so vie­les bes­ser ist? Ich weiß ja nicht. Jeden­falls lese ich im Tages­spie­gel, dass dort vor zehn Jah­ren ein Rent­ner ermor­det wor­den, was aber nie­man­dem wei­ter auf­ge­fal­len ist, da die Lei­che vom Täter zer­stü­ckelt in einer Tief­kühl­tru­he ein­ge­la­gert wur­de. Ange­sichts die­ser eis­kal­ten News frag­te der Tages­spie­gel bei den her­um Nach­barn und fand sogar einen, „der seit 2006 im glei­chen Haus wohnt“ wie das Opfer. Der zeigt sich betrof­fen, schließ­lich habe der Rent­ner stets „freund­lich und jung geblie­ben“ gewirkt. Das kann ich mir sehr gut vor­stel­len. Ich wür­de mich sogar fast zu der Aus­sa­ge ver­stei­gen, dass der Mann sich für sein Alter über­ra­schend gut gehal­ten hat. Nur die­ses eis­kal­te Lächeln, das hät­te uns zumin­dest hier im Wed­ding dann aber doch miss­trau­isch gemacht!

(Hei­ko Werning)

Stehpizza Müllerstraße

„Hal­lo. Ich woll­te mal fra­gen, wie lan­ge ihr heu­te auf habt?”

„Kei­ne Ahnung.”

„Wie jetzt? Wisst ihr eure Öff­nungs­zei­ten nicht?”

„Wir machen das nach Gefühl. Ali, wann machen wir heu­te zu?”

„Ich wür­de sagen, so in 5 Minu­ten. Vom Gefühl her.”

„Wir haben aber noch ein gan­zes Blech Mini-Piz­za, Ali.”

„Dann halt in einer hal­ben Stun­de, Bruder.”

„Wir schlie­ßen heu­te in einer hal­ben Stunde.”

„Und sonst so? Ges­tern zum Bei­spiel? Habt ihr kei­ne fes­ten Zeiten?”

„Nach Gefühl halt. Ali, wann haben wir ges­tern zugemacht?”

„Kei­ne Ahnung.”

„War es nach 23 Uhr oder vorher?”

„Kei­ne Ahnung. Das Piz­za­blech war alle und vom Gefühl her woll­ten wir kein neu­es aus­le­gen. Kann sein, dass es schon 22 Uhr war.”

„Aber öff­nen tut ihr um 11 Uhr?”

„Kommt drauf an. Ist wich­tig, ob Ali oder ich schon hier sind. Sonst spä­ter, manch­mal frü­her. Chef sagt, wir sol­len fle­xi­bel sein.”

„Und wenn ich mor­gen um die­se Zeit vorbeikomme?”

„Dann ist viel­leicht auf, viel­leicht zu. Kommst du bes­ser früher.”

(Robert Res­cue)

Vielleicht

Sams­tag­mit­tag, Oster­ein­kauf. Zu allem Über­fluss am Tabak­la­den noch drei Lot­to-Spie­ler vor mir in der Schlan­ge. Mit gro­ßem Ernst wer­den Zet­tel getauscht, man­che von der Lot­to­ma­schi­ne aus­ge­le­sen, ande­re wie­der aus­ge­ge­ben. Klei­ne Euro­bei­trä­ge müs­sen nach­ge­zahlt wer­den, heu­te kein Gewinn.

“Was ist Ihr Hobby?”

“Geld weg­wer­fen zum Wochenende.”

Dia­log hier nicht denk­bar. Die eiser­ne Spie­l­er­re­gel, nur Geld ein­zu­set­zen, um das es nicht scha­de ist, zwingt zur Zurück­hal­tung. War­te­zeit wie in Sirup, mei­ne Tief­kühl­sa­chen schwit­zen. Immer wie­der Nach­fra­gen: “Spiel 77?”

“Hab ich doch gekreuzt.”

“Ja? Aber nicht rich­tig. Also nein?”

“Habe ich gemacht.”

“Müs­sen Sie aber deut­li­cher machen, hat die Maschi­ne nicht erkannt.”

“Com­pu­ter”, sagt der drit­te. Sei­ne Beto­nung sug­ge­riert einen Dop­pel­punkt, Tore zur Weis­heit wer­den geöff­net: “Immer nur ‘Ja’ oder ‘Nein’. Nie vielleicht.”

(Frank Sor­ge)

Sommer

Schöne Feier

Wir fei­ern unse­re Hoch­zeit auf dem Hin­ter­hof, und das ist in ers­ter Linie Logis­tik. Vie­le Stüh­le, vie­le Tische, vie­le Gäs­te, viel Essen, viel viel. Der Innen­hof ist mehr­fach geteilt, am nächs­ten Tag spricht mich ein Nach­bar aus dem Neben­haus an. Er hät­te es so schön gefun­den, wie alles geschmückt und leb­haft gewe­sen wäre. “Ich habe aus mei­nem Fens­ter im ers­ten Stock noch nie etwas Schö­ne­res gese­hen!”, sagt er, was mich beein­druckt, da er selbst schon lan­ge in Ren­te zu sein scheint und sein Miet­ver­trag wahr­schein­lich in den Sech­zi­gern unter­zeich­net wur­de. Er müs­se aber doch fra­gen, sagt er, eine Idee hät­te er ja, was es denn nun eigent­lich gewe­sen wäre.

“Eine Hoch­zeit”, sage ich, fast wirkt er enttäuscht.

“Ach so”, sagt er, “so schön wie das auf­ge­baut war, auch das alles für die Kin­der – da habe ich gesagt: Das muss doch was Poli­ti­sches sein.”

(Frank Sor­ge)

Die Außenseiter

Namen sind mit­un­ter Schall und Rauch, eher nicht, wenn sie auf Stra­ßen­schil­dern ste­hen. Dann sind es Namen, die auf Stra­ßen­schil­dern ste­hen. Umstrit­te­ne Per­so­nen deut­scher Kolo­ni­al­ge­schich­te von die­sen Schil­dern her­un­ter­zu­neh­men, ist daher eine gute Idee, hier im Wed­ding im Afri­ka­ni­schen Vier­tel. Es geht nicht dar­um, die­se Geschich­te zu ver­ges­sen oder ver­ges­sen zu machen, son­dern im Gegen­teil, sich mit ihr zu beschäf­ti­gen. Nach eini­gem Streit um das Ver­fah­ren und die von einer Jury aus­ge­wähl­ten Namen, hat das Bezirks­amt jetzt die kom­plet­te Lis­te der 196 Vor­schlä­ge ver­öf­fent­licht, die Anfang des Jah­res ein­ge­bracht wer­den konn­ten. Gesucht wur­den “Per­sön­lich­kei­ten – ins­be­son­de­re Frau­en – der (post-) kolo­nia­len Befrei­ungs- und Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung aus Län­dern Afri­kas”. Vor allem Afri­ka­for­scher wer­den sich wei­ter mit den Vor­schlä­gen beschäf­ti­gen, unter die­sen sind aber eini­ge, mit denen sie sich nicht beschäf­ti­gen müs­sen. Mit denen kann ich mich beschäf­ti­gen, das wären u.a.: David-Bowie-Stra­ße, Mus­ta­fa-Kemal-Ata­türk-Stra­ße, BVV-Mit­te-auf­lö­sen-Stra­ße, Donald-Duck-Stra­ße, Recep-Tayyip-Erdo­gan-Platz, Grü­ne-Raus-Stra­ße, Grü­ne-Kotz-Stra­ße, Grü­ne-Vögel-Stra­ße, Grü­ne-Wie­se-Stra­ße, Nie­mals-Grü­ne-Wäh­len-Stra­ße, Pip­pi-Lang­strumpf-Stra­ße, Platz-des-afrikanischen-Elefanten.

David-Bowie-Stra­ße – der bekann­te Welt-Musi­ker (Afri­ka inbe­grif­fen, letz­tes Album ‘Black Star’), der bei­na­he in Kame­run gebo­ren wur­de (Luft­li­nie gute 5000 km). Passt auf kei­nes der vor­ge­ge­be­nen Kri­te­ri­en für die neu­en Stra­ßen­na­men, aber dann eigent­lich doch (“Sie hat mit ihrem Wir­ken Maß­stä­be gesetzt”).

Mus­ta­fa-Kemal-Ata­türk-Stra­ße - der Begrün­der der Repu­blik Tür­kei (sehr nahe an Afri­ka) ist nicht als Wider­stands­kämp­fe­rin bekannt, passt aber auch auf über­ra­schend vie­le Kri­te­ri­en der Jury (“Der Name geht aus der Vor­schlags­lis­te hervor.”).

BVV-Mit­te-auf­lö­sen-Stra­ße – ganz offen­kun­dig geht es die­sem Namens­vor­schlag nicht dar­um, einen Namen vor­zu­schla­gen. In sei­ner pöbeln­den Plump­heit liegt aber auch der inspi­rie­ren­de Impuls, abseits von Per­sön­lich­kei­ten Stra­ßen­na­men zu erwä­gen. War­um also nicht ein­fach ‘Kolo­ni­al­ge­schichts­stra­ße’, oder ‘Stra­ße der Ver­ant­wor­tung’? Oder schlicht ‘Umbe­nen­nungs­stra­ße’, wenn man sich gar nicht eini­gen kann?

Donald-Duck-Stra­ße – Quak, quak, quak. Nak, nak, quak, quak. Quak. Es mag Grün­de für die­sen Vor­schlag geben, aber sie sind ein­fach nicht rich­tig greifbar.

(Frank Sor­ge)

Was ist Berlin?

„Hal­lo?”

Eine Ant­wort wird nur gebrummt. Der jun­gen Frau im Tabak­la­den mit Post­stel­le ist offen­bar heiß im roten Pull­over. Sie stöhnt auf, dann atmet sie schwer aus. „Moment“, sagt sie, winkt ab und schaut mich nicht an.

Ich las­se sie atmen und tran­spi­rie­ren. Womög­lich muss­te sie kurz zuvor etwas Schwe­res im Lager tra­gen und auf­sta­peln. Die Hit­ze, ein schwa­cher Moment, die Pake­te pur­zeln zu Boden. „Schei­ße, ver­dammt“ rufen, noch ein­mal. So könn­te es gewe­sen sein, da muss man jedem die Zeit gön­nen, sich mit ein paar Atem­zü­gen wie­der in Form zu bringen.

Mei­ne Audi­enz lässt auf sich war­ten, ich habe einen Brief schon auf die Waa­ge am Tre­sen gelegt. Er ist zu schwer, sehe ich. „Wat brau­chen Se denn?“

„Der Brief ist zu schwer, da müs­sen noch fünf­zehn Cent mehr drauf.“

Ein Blick wie aus der Not­auf­nah­me für Aus­sät­zi­ge, sie wiegt noch ein­mal, zieht Brief­mar­ken­heft­chen her­vor. Das ers­te wird mal­trä­tiert, eine der vier 10-Cent-Ergän­zungs­brief­mar­ken unter Ver­lust fast aller Ecken und Fran­sen mür­risch her­aus­ge­ris­sen. Das Befeuch­tungs­schwämm­chen wird damit grob zu Boden gedrückt. Fast glau­be ich, es lei­se wim­mern zu hören, aber das ist nur ihr pfei­fen­der Atem aus Abscheu. Der Fet­zen wird irgend­wo auf den Brief geklatscht, dann noch die feh­len­de 5‑Cent-Mar­ke auf glei­che Wei­se. Immer wie­der drückt sie den Brief­mar­ken­rest in das Schwämm­chen, um es zu ersäu­fen. „Is dit allet?“ wer­de ich freund­lich angebellt.

(Frank Sor­ge)

 

__

Thi­lo Bock, Robert Res­cue, Frank Sor­ge, Vol­ker Sur­mann und Hei­ko Wer­ning zie­hen  ihr Fazit aus 2017: „Soll­te auch mor­gen die Welt unter­gehn, las­set uns heu­te noch Pan­das ansehn!“

Vom Diens­tag, 26.12. bis Sams­tag, 06.01., täg­lich um 20 Uhr

Nach­mit­tags­vor­stel­lun­gen: Fr. 29.12. – So. 31.12., täg­lich um 16 Uhr

Sil­ves­ter-Mati­née: So. 31.12., 12 Uhr

Bis zum 6.1.2018 sind die Brau­se­boys fast täg­lich mit ihrem Jah­res­rück­blick Auf Nim­mer­wie­der­se­hen 2017 im Kooka­bur­ra. Schön­hau­ser Allee 184. Ber­lin-Prenz­lau­er Berg.

Mor­gen gibt es den zwei­ten Teil mit Geschich­ten aus dem Herbst und aus dem Winter!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gastautor

Als offene Plattform veröffentlichen wir gerne auch Texte, die Gastautorinnen und -autoren für uns verfasst haben.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

MastodonWeddingweiser auf Mastodon
@[email protected]

Wedding, der Newsletter. 1 x pro Woche



Unterstützen

nachoben

Auch interessant?