In ihrem zwölften Jahresrückblick stellen die Brauseboys erstmals positive Nachrichten ins Zentrum: Berlin hat neue Pandas! Orkantief Xavier sorgt für Vollbeschäftigung in der Forstwirtschaft! Air Berlin senkt seine Klima-Emissionen auf Null! Trumps Frisur hat das ganze Jahr gehalten! Weder er noch Kim Jong-Un haben den 3. Weltkrieg begonnen! Noch nie wollten so viele Parteien in Deutschland nicht regieren! Im ersten Teil präsentieren wir hier Texte aus dem Frühling und Sommer.
Frühling
Eiskaltes Lächeln
Der Wedding gilt ja immer noch als „eines der härtesten Krisengebiete des Landes“ (Der Spiegel), aber ob es im inzwischen superbürgerlichen benachbarten Prenzlauer Berg wirklich um so vieles besser ist? Ich weiß ja nicht. Jedenfalls lese ich im Tagesspiegel, dass dort vor zehn Jahren ein Rentner ermordet worden, was aber niemandem weiter aufgefallen ist, da die Leiche vom Täter zerstückelt in einer Tiefkühltruhe eingelagert wurde. Angesichts dieser eiskalten News fragte der Tagesspiegel bei den herum Nachbarn und fand sogar einen, „der seit 2006 im gleichen Haus wohnt“ wie das Opfer. Der zeigt sich betroffen, schließlich habe der Rentner stets „freundlich und jung geblieben“ gewirkt. Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Ich würde mich sogar fast zu der Aussage versteigen, dass der Mann sich für sein Alter überraschend gut gehalten hat. Nur dieses eiskalte Lächeln, das hätte uns zumindest hier im Wedding dann aber doch misstrauisch gemacht!
(Heiko Werning)
Stehpizza Müllerstraße
„Hallo. Ich wollte mal fragen, wie lange ihr heute auf habt?”
„Keine Ahnung.”
„Wie jetzt? Wisst ihr eure Öffnungszeiten nicht?”
„Wir machen das nach Gefühl. Ali, wann machen wir heute zu?”
„Ich würde sagen, so in 5 Minuten. Vom Gefühl her.”
„Wir haben aber noch ein ganzes Blech Mini-Pizza, Ali.”
„Dann halt in einer halben Stunde, Bruder.”
„Wir schließen heute in einer halben Stunde.”
„Und sonst so? Gestern zum Beispiel? Habt ihr keine festen Zeiten?”
„Nach Gefühl halt. Ali, wann haben wir gestern zugemacht?”
„Keine Ahnung.”
„War es nach 23 Uhr oder vorher?”
„Keine Ahnung. Das Pizzablech war alle und vom Gefühl her wollten wir kein neues auslegen. Kann sein, dass es schon 22 Uhr war.”
„Aber öffnen tut ihr um 11 Uhr?”
„Kommt drauf an. Ist wichtig, ob Ali oder ich schon hier sind. Sonst später, manchmal früher. Chef sagt, wir sollen flexibel sein.”
„Und wenn ich morgen um diese Zeit vorbeikomme?”
„Dann ist vielleicht auf, vielleicht zu. Kommst du besser früher.”
(Robert Rescue)
Vielleicht
Samstagmittag, Ostereinkauf. Zu allem Überfluss am Tabakladen noch drei Lotto-Spieler vor mir in der Schlange. Mit großem Ernst werden Zettel getauscht, manche von der Lottomaschine ausgelesen, andere wieder ausgegeben. Kleine Eurobeiträge müssen nachgezahlt werden, heute kein Gewinn.
“Was ist Ihr Hobby?”
“Geld wegwerfen zum Wochenende.”
Dialog hier nicht denkbar. Die eiserne Spielerregel, nur Geld einzusetzen, um das es nicht schade ist, zwingt zur Zurückhaltung. Wartezeit wie in Sirup, meine Tiefkühlsachen schwitzen. Immer wieder Nachfragen: “Spiel 77?”
“Hab ich doch gekreuzt.”
“Ja? Aber nicht richtig. Also nein?”
“Habe ich gemacht.”
“Müssen Sie aber deutlicher machen, hat die Maschine nicht erkannt.”
“Computer”, sagt der dritte. Seine Betonung suggeriert einen Doppelpunkt, Tore zur Weisheit werden geöffnet: “Immer nur ‘Ja’ oder ‘Nein’. Nie vielleicht.”
(Frank Sorge)
Sommer
Schöne Feier
Wir feiern unsere Hochzeit auf dem Hinterhof, und das ist in erster Linie Logistik. Viele Stühle, viele Tische, viele Gäste, viel Essen, viel viel. Der Innenhof ist mehrfach geteilt, am nächsten Tag spricht mich ein Nachbar aus dem Nebenhaus an. Er hätte es so schön gefunden, wie alles geschmückt und lebhaft gewesen wäre. “Ich habe aus meinem Fenster im ersten Stock noch nie etwas Schöneres gesehen!”, sagt er, was mich beeindruckt, da er selbst schon lange in Rente zu sein scheint und sein Mietvertrag wahrscheinlich in den Sechzigern unterzeichnet wurde. Er müsse aber doch fragen, sagt er, eine Idee hätte er ja, was es denn nun eigentlich gewesen wäre.
“Eine Hochzeit”, sage ich, fast wirkt er enttäuscht.
“Ach so”, sagt er, “so schön wie das aufgebaut war, auch das alles für die Kinder – da habe ich gesagt: Das muss doch was Politisches sein.”
(Frank Sorge)
Die Außenseiter
Namen sind mitunter Schall und Rauch, eher nicht, wenn sie auf Straßenschildern stehen. Dann sind es Namen, die auf Straßenschildern stehen. Umstrittene Personen deutscher Kolonialgeschichte von diesen Schildern herunterzunehmen, ist daher eine gute Idee, hier im Wedding im Afrikanischen Viertel. Es geht nicht darum, diese Geschichte zu vergessen oder vergessen zu machen, sondern im Gegenteil, sich mit ihr zu beschäftigen. Nach einigem Streit um das Verfahren und die von einer Jury ausgewählten Namen, hat das Bezirksamt jetzt die komplette Liste der 196 Vorschläge veröffentlicht, die Anfang des Jahres eingebracht werden konnten. Gesucht wurden “Persönlichkeiten – insbesondere Frauen – der (post-) kolonialen Befreiungs- und Emanzipationsbewegung aus Ländern Afrikas”. Vor allem Afrikaforscher werden sich weiter mit den Vorschlägen beschäftigen, unter diesen sind aber einige, mit denen sie sich nicht beschäftigen müssen. Mit denen kann ich mich beschäftigen, das wären u.a.: David-Bowie-Straße, Mustafa-Kemal-Atatürk-Straße, BVV-Mitte-auflösen-Straße, Donald-Duck-Straße, Recep-Tayyip-Erdogan-Platz, Grüne-Raus-Straße, Grüne-Kotz-Straße, Grüne-Vögel-Straße, Grüne-Wiese-Straße, Niemals-Grüne-Wählen-Straße, Pippi-Langstrumpf-Straße, Platz-des-afrikanischen-Elefanten.
David-Bowie-Straße – der bekannte Welt-Musiker (Afrika inbegriffen, letztes Album ‘Black Star’), der beinahe in Kamerun geboren wurde (Luftlinie gute 5000 km). Passt auf keines der vorgegebenen Kriterien für die neuen Straßennamen, aber dann eigentlich doch (“Sie hat mit ihrem Wirken Maßstäbe gesetzt”).
Mustafa-Kemal-Atatürk-Straße - der Begründer der Republik Türkei (sehr nahe an Afrika) ist nicht als Widerstandskämpferin bekannt, passt aber auch auf überraschend viele Kriterien der Jury (“Der Name geht aus der Vorschlagsliste hervor.”).
BVV-Mitte-auflösen-Straße – ganz offenkundig geht es diesem Namensvorschlag nicht darum, einen Namen vorzuschlagen. In seiner pöbelnden Plumpheit liegt aber auch der inspirierende Impuls, abseits von Persönlichkeiten Straßennamen zu erwägen. Warum also nicht einfach ‘Kolonialgeschichtsstraße’, oder ‘Straße der Verantwortung’? Oder schlicht ‘Umbenennungsstraße’, wenn man sich gar nicht einigen kann?
Donald-Duck-Straße – Quak, quak, quak. Nak, nak, quak, quak. Quak. Es mag Gründe für diesen Vorschlag geben, aber sie sind einfach nicht richtig greifbar.
(Frank Sorge)
Was ist Berlin?
„Hallo?”
Eine Antwort wird nur gebrummt. Der jungen Frau im Tabakladen mit Poststelle ist offenbar heiß im roten Pullover. Sie stöhnt auf, dann atmet sie schwer aus. „Moment“, sagt sie, winkt ab und schaut mich nicht an.
Ich lasse sie atmen und transpirieren. Womöglich musste sie kurz zuvor etwas Schweres im Lager tragen und aufstapeln. Die Hitze, ein schwacher Moment, die Pakete purzeln zu Boden. „Scheiße, verdammt“ rufen, noch einmal. So könnte es gewesen sein, da muss man jedem die Zeit gönnen, sich mit ein paar Atemzügen wieder in Form zu bringen.
Meine Audienz lässt auf sich warten, ich habe einen Brief schon auf die Waage am Tresen gelegt. Er ist zu schwer, sehe ich. „Wat brauchen Se denn?“
„Der Brief ist zu schwer, da müssen noch fünfzehn Cent mehr drauf.“
Ein Blick wie aus der Notaufnahme für Aussätzige, sie wiegt noch einmal, zieht Briefmarkenheftchen hervor. Das erste wird malträtiert, eine der vier 10-Cent-Ergänzungsbriefmarken unter Verlust fast aller Ecken und Fransen mürrisch herausgerissen. Das Befeuchtungsschwämmchen wird damit grob zu Boden gedrückt. Fast glaube ich, es leise wimmern zu hören, aber das ist nur ihr pfeifender Atem aus Abscheu. Der Fetzen wird irgendwo auf den Brief geklatscht, dann noch die fehlende 5‑Cent-Marke auf gleiche Weise. Immer wieder drückt sie den Briefmarkenrest in das Schwämmchen, um es zu ersäufen. „Is dit allet?“ werde ich freundlich angebellt.
(Frank Sorge)
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Thilo Bock, Robert Rescue, Frank Sorge, Volker Surmann und Heiko Werning ziehen ihr Fazit aus 2017: „Sollte auch morgen die Welt untergehn, lasset uns heute noch Pandas ansehn!“
Vom Dienstag, 26.12. bis Samstag, 06.01., täglich um 20 Uhr
Nachmittagsvorstellungen: Fr. 29.12. – So. 31.12., täglich um 16 Uhr
Silvester-Matinée: So. 31.12., 12 Uhr
Bis zum 6.1.2018 sind die Brauseboys fast täglich mit ihrem Jahresrückblick Auf Nimmerwiedersehen 2017 im Kookaburra. Schönhauser Allee 184. Berlin-Prenzlauer Berg.
Morgen gibt es den zweiten Teil mit Geschichten aus dem Herbst und aus dem Winter!