Am 21. Dezember 2014 brannten die Flachbauten an der Müller- Ecke Lindower Straße lichterloh. 100 Feuerwehrleute bekämpften den Brand, der viele kleine Gewerbebetriebe betraf. Schon ist der Wunsch nach Abriss der Bebauung zu hören. Ein „Schandfleck“ soll verschwinden, der baulicher Ausdruck einer heruntergekommenen Einkaufsstraße zu sein scheint. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass ohne Rücksicht auf die Geschichte dieses Teils des Weddings gehandelt würde.
Der Niedergang der Müllerstraße, wenn man ihn so sehen möchte, ist ganz im Gegenteil ein typisches Produkt der bundesrepublikanischen Realität der 50er bis 70er Jahre, als unsere Stadtväter und Stadtmütter meinten, wir benötigen monofunktionale Einkaufsstraßen. Die „beklagenswerte“ Entwicklung der Müllerstraße ist nicht Besonderes, sie verlief wie bei Hunderten westdeutscher Mittel- und Kleinstädte. Einer der Gründe, warum der Bund das Förderprogramm der Aktiven Stadtzentren ins Leben rief. Ein Programm, mit dem verkürzt gesagt verödete Innenstädte wieder zu blühenden Landschaften gemacht werden sollen und nach dem in der Müllerstraße investiert wird.
In der Entwicklung der Geschichtslandschaft Müllerstraße stehen die provisorisch erreichten Ladengeschäfte, die zum Teil ausbrannten, für eine Zeit, in der nicht klar war, wohin die Reise gehen wird. Darin liegt vor allem der historische Wert dieser Gebäude. Sie wurden einstmals „Schwarzmarktbuden“ genannt, Bauwerke, die sich überall an der Sektorengrenze fanden, als die Grenze in Berlin noch mehr oder weniger offen war. Vergleichbare Bauwerk gibt es heute nur noch am U‑Bahnhof Schlesisches Tor. Es war die Zeit der Grenzkinos, deren bedeutendes Bauwerk im Wedding das Sputnik später von der Deutschen Bahn ohne Diskussion abgerissen worden ist. In dieser Zeit der 50er Jahre entstand auch die Bibliothek in der Schönwalder Straße, dessen repräsentativer Raum heute als Werkstatt der Jugendkunstschule absolut fehlgenutzt wird.
Das Herz des Wedding schlug woanders
Anders als manche westdeutsche Stadt traf es den Wedding weitaus schlimmer. Hier wurden in der Aufbaueuphorie die gewachsenen Strukturen eines ganzen Bezirkes zerstört. Das Leben des Wedding spielt sich bis zum Zweiten Weltkrieg zwischen Weddingplatz, Nettelbeckplatz und Gesundbrunnen ab. In einem Kraftakt wurde in den 1950er Jahren das Zentrum von dieser Achse in die Müllerstraße verlegt. Der Leopoldplatz mit der Kalten-Kriegs-U-Bahn der U9 und dem Karstadt-Kaufhaus (vorher an der Turmstraße) zu „dem“ zentralen Ort im einstigen Arbeiterbezirk umfunktioniert. Einher ging dies insbesondere mit der Abwertung der südlichen, an der Sektorengrenze gelegenen Teile des Weddings und der Zerstörung des Weddingplatzes.
Der Umbau der Müllerstraße zu einem städtischen Zentrum war nicht nur eine Reaktion auf die Teilung der Stadt und den Mauerbau, die Architektur der Müllerstraße wurde zu einem Medium in der Auseinandersetzung des Kalten Krieges. Als solche sollte sie auch gelesen werden. So richtete sich der Saal des Kurt-Schumacher-Hauses entlang der Müllerstraße in Richtung Südenmahnend in Richtung des Zentrums von Ost-Berlin. Das neue Rathaus Wedding, zunächst als Gebäuderiegel geplant, wird zu einem Turm, der als Wahrzeichen auch im Ostteil sichtbar sein soll. Die Dankeskirche wird gegenüber ihrem Entwurf so gedreht, dass das Kreuz an der Fassade wie ein erhobener Zeigefinger in Richtung Ost-Berlin gerichtet ist. Der damalige Bezirk Wedding lässt dann auch Schering alle möglichen Freiheiten, das Verwaltungsgebäude scheint machtvoll wie ein Containerschiff in Richtung Berlin Mitte zu fahren.
Diese Entwicklung ging einher mit der systemischen Entwertung des südlichen Teiles der Müllerstraße. Dass bis heute aus dieser verfehlten 50er Jahre-Planung nichts gelernt wurde, zeigt, so die Auffassung des Autors, die Fehlentscheidung der Nazarethkirchengemeinde. Sie möchte die Dankeskirche auf dem Weddingplatz verkaufen und verspielt damit die Möglichkeit, am Weddingplatz einen offen lebendigen Ort entstehen zu lassen. Stattdessen soll in einem in den 1980er Jahren zu einer Galerie umgebauten Saal über einer Kita in der einstigen Schinkelkirche investiert werden.
Hier ist der Wedding urban
Wer den Wedding kennen lernen möchte, braucht nur durch die Lindower Straße zu laufen – mit ihrer Kleinteiligkeit aus kulturellen Orten und interessantem Einzelhandel, von Moscheen über russische, polnische und türkische Tanzlokale, bis hin zu einem der besten Fischgeschäfte Berlins. Es besteht die Gefahr, dass ausgehend von dem Brand gefordert wird, hier jetzt Tabula rasa zu machen. Es ist zu befürchten, dass mit dem Abriss und der Bebauung der Ecke jene Urbanität verloren geht, die diese Straße und auch den Wedding ausmacht.
Viel eher sollte der Brand genutzt werden, um sich im positiven Sinne dem Süden der Müllerstraße zuzuwenden, um dessen Potentiale zu erkennen und weiter zu entwickeln. Dazu braucht es einen Blick für diesen Ort und eine Verständigung mit den Menschen. Eines braucht es im Moment allerdings nicht: einen vorurteilsgeladen abwertenden Umgang ohne Kenntnisse der Geschichte der Müllerstraße und der Lebensverhältnisse der Menschen.
Autor: Eberhard Elfert
Im Dezember 2016 wurde folgendes Bauprojekt für die Ecke bekannt. Ein sieben- bis zehnstöckiges Geschäftshaus mit Studentenappartements ist geplant.
[…] Ende 2014 fing es an. Als die Flachbauten am S‑Bahnhof Wedding im Dezember lichterloh brannten, drohte ein Stück Berliner Nachkriegsgeschichte zu verschwinden. Dann brannte auch noch das […]
Fürchterlich geschriebener Text. Ganz fürchterlich.
Ob die Behelfsbauten an der Ecke Lindower Str. schützenswert sind, ist mehr als zu bezweifeln ! Wichtiger wäre es ‚den Bezirksplanungen auf die Finger zu schauen! Ein Geschäftshaus oder ein Einkaufszentrum wäre für den Mittelstand und den Charakter des Viertels schädlich! Dort sollten Wohnungen gebaut werden, mit kleinteiligem Gewerbe allenfalls in den EGs.
Schöner Artikel
Zu dem Grundstück: Es ist definitiv ein Filegrundstück in Berlin. Vergleichbares gibt es kaum noch, an einer Kreuzung von U‑Bahn und S‑Bahnring.
Im Rahmen des Sanierungsgebietes Müllerstraße gibt es auch schon ein Blockkonzept für diese Ecke: http://www.muellerstrasse-aktiv.de/wp-content/uploads/130124_130130_Blockkonzept_S-Bahnhof_Wedding_klein.pdf
Ein Bebauungsplan aus dem Jahr 2000 erlaubt hier neun Obergeschosse im “Kerngebiet”:
http://mitte.gis-broker.de/bplaene/0103224.gif
Um Spekulationen vorzubeugen: Nach meiner Kenntnis haben die Betriebe dort alle nur kurzfristig kündbare Mietverträge. Dass dort kürzlich das “Wedding Grillhaus” mit doch etlichem, Investionsvolumen reinging, hat zumindest die Sanierungsbeteiligten sehr verwundert!
Sehr guter Artikel!
Was wohl and diesem Ort jetzt passiert und passieren kann?