Poet, Slamer, Dichter und Gastautor beim Weddingweiser Clint Lukas fühlt sich wohl am Leopoldplatz:
“Als ich früher im Brunnenviertel gewohnt habe, bin ich immer nur wegen des Bürgeramts zum Leopoldplatz gefahren. Ich weiß noch, wie ich aus der U‑Bahn kam und sie da stehen sah, zwischen BURGER KING und der Haltestelle des 120er Busses: Arbeiter ohne Arbeit, Sprittis, Junkies, alle keine Kinder von Traurigkeit. Und ich dachte jedes Mal, Herrgottsakra, hier muss ich wirklich nicht wohnen. Inzwischen wohne ich hier und bin täglich am Leo.
Ich weiß, dass die Gegend genauso normal wie jede andere ist. Doch diese eine Ecke hat ihre Faszination für mich nicht verloren. Das Straßenpflaster bedeckt von Kronkorken und den Seasoning-Päckchen der YumYum-Suppen, die von den Kids trocken gesnackt werden. Überall Autos in zweiter Reihe geparkt, obwohl der Lieferanten- und Busverkehr nicht zu verachten ist. Und in der allgemeinen Hektik dann dieses Stilleben verstrahlter Bohemiens.
Wenn ich mittags mit meiner Tochter einkaufen gehe, ist immer schon high-life angesagt. Ein paar Jungs kauern in Russenhocke vor der schweren Stahljalousie, die den Eingang zum Lager des Obststandes verschließt (eigentlich nicht mehr komplett: Die untere Hälfte ist vom vielen Urin durchgerostet, der hier rituell vergossen wird). Ein konstanter Kundenstrom fördert Bier und Tütenwein aus dem unterirdischen NETTO zutage. Auf der Treppe zur U‑Bahn und vor der Theke des Handydoktors wird bereits lautstark debattiert.
Noch nie habe ich auf einem Fleck so viele gebrochene Nasen, Veilchen und Platzwunden gesehen. Oft kriegen sich ein paar der Jungs genau dann in die Haare, wenn ich mit dem Kinderwagen durch ihre Reihe fahre. Aber das Erstaunliche ist: Noch nie wurde ich angerempelt. Ich hab nicht mal gesehen, dass einem Passanten versehentlich der Weg versperrt wurde. Und wir reden hier von einem Areal, das ungefähr zehn mal zehn Meter misst. Auf dem sich an die siebzig Suffis rumtreiben.
Am meisten mag ich, wenn es hier Beziehungsstress gibt. Wenn zwei Liebende im Clinch mit sich und ihren Promillen liegen und umringt werden von gutmütigen, doch unzurechnungsfähigen Schlichtern. Dann fließen auch schon mal Tränen, hin und wieder gibt’s eine drollige Ohrfeige. Aber nie muss man als Unbeteiligter alarmiert sein. Es ist, als würde ihr Gelage in einem Paralleluniversum stattfinden. Sichtbar für unbescholtene Bürger wie mich (die erst um 14 Uhr anfangen zu trinken), aber in eine andere, unberührbare Sphäre entrückt.
Ich frag mich dann manchmal: Warum stehen die genau hier? Dauernd müssen sie zur Seite treten für die Flaneure, die sich bei Woolworth und Karstadt mit anmutigen Dingen ausstatten. Warum hängen sie nicht vorm Rathaus rum oder im Unterstand bei der Nazareth-Kirche? Mich würde das nerven. Wenn ich mir gepflegt einen reinlöten will und dauernd dem Menschenmaterial ausweichen muss, das aus dem ÖPNV quillt.
Aber das Schöne an Ecken wie diesen, überhaupt an diesem fabelhaften Bezirk, ist, dass man die Dinge nicht hinterfragen muss. Der Gentleman genießt und schweigt. Und so werde ich weiter meine zweijährige Tochter im Kinderwagen durch diese Menge schieben. Die den Anschein hat, völlig entfesselt zu sein. Und in deren Mitte ich mich doch so sicher fühlen kann, wie in Abraham Lincolns Schoß. Oder so ähnlich.”
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Neueste Texte von Clint Lukas auch auf seinem Blog mit der Unterzeile “Für die Liebe, für die Kunst”.
Sein 2016 erschienenes Buch “Nie wieder Frieden” rühmt der Weddingweiser im Beitrag “Clint Lukas ist der letzte der Cowboys”.
Autor: Clint Lukas, Fotos: weddingweiser
Wunderbar – habe ich mit einem leisen Kichern gelesen..