Ich gehe wählen, weil es doch nicht sein kann, dass mein Großvater cooler ist als ich. Ich meine, mein Großvater war stolz auf sein Fernsehgerät in der guten Stube. Er musste aufstehen, wenn er statt ARD mal ZDF sehen wollte. Und wenn vier Jahre rum waren, dann zog er seinen Anzug an und ging ins Wahllokal, um seine Partei zu wählen. Mein Vater dann war stolz auf seine Fernbedienung. Vom Sofa aus steuerte er 32 Programme an. Aber da fing es schon an, dass nichts mehr im Fernsehen lief und die Wahl unwichtig wurde. Nun bin ich stolz. Auf meine App, die mir YouTube bietet. Nur der Brief, der mich zur Wahl aufruft, stellt mich vor ein Rätsel. Was ist da in 50 Jahren passiert? Vielleicht ist ganz viel passiert und heute ist alles anders. Aber vielleicht auch ist alles beim Alten, nur ich bin uncool. Deshalb schreibe ich einen persönlichen Wahlaufruf:
Mein Wahlaufruf zur BerlinWahl2016
Denk nicht zu viel nach und geh einfach wählen! Du glaubst, der Mann auf der Straße zählt nicht mehr in der Politik? Die Welt ist unfair, ungleich und Du bist abgehängt? Ich denke da an meinen Großvater, der immer erzählte, wie er am Potsdamer Platz “sich die Nase an den Schaufensterscheiben plattgedrückt hat”. “Ja, es stimmt, es gab alles. Aber mein ganzes Lehrlingsgeld ging für S‑Bahn-Fahrscheine drauf.” Aber ihm war klar, dass sich daran von allein nichts ändern würde. Und als es ihm nach Krieg und Gefangenschaft möglich war, trat er sofort in eine demokratische Partei ein.
Denk nicht zu viel nach und geh einfach wählen! Du glaubst, die Politik kann nichts mehr entscheiden, das erledigen die Banken? Die Welt ist zu global? Ich überlege, wie es für meinen Großvater war. Plötzlich war Deutschland Spielball zweier Großmächte. Statt Globalisierung sagte man Kalter Krieg. Ihm war klar, das Adenauer von Mächtigeren abhängig war und deshalb den von Deutschland übrig gebliebenen Rest nach Westen führte. Und ihm war klar, dass es trotz aller Abhängigkeiten einen Unterschied machte, ob Adenauer oder Schumacher regierte – vom radikalen Ulbricht ganz abgesehen.
Denk nicht zu viel nach und geh einfach wählen! Du findest bei jeder Partei ein Haar in der Suppe? Du lebst eben in einer Welt, in der Du keine Bindung zu einer Partei hast? Ich sehe, das es mein Großvater einfacher hatte. Er sagte, in unserer Familie haben wir immer (Biep-Ton) gewählt. Damit war er fertig. Das heißt, auch ihm war die Wahl nicht so wichtig, wie der Kauf seines Autos, für den er jahrelang überlegt hat. Ihm wäre aber klar gewesen, dass man dann eben eine Partei wie eine Zahnpasta auswählt. Er würde die mit der buntesten Verpackung nehmen – aber nicht Chlorhexamed und andere radikale Lösungen, bloß um sich die Zähne zu putzen.
Warum ich wähle
Ich gehe wählen, weil ich mich an meinen Großvater erinnere. Wie er sagen würde: “Nun mach nicht so ein Gewese”. Möglich, dass die Welt ungleicher (neoliberaler), globaler oder bindungsloser geworden ist. Möglich aber auch, dass mein Großvater einfach nicht verstehen würde, warum ich mich so anstelle. Als ob alles ganz besonders schlimm wäre heutzutage. “So schwer ist das doch nun auch wieder nicht.”
Autor: Andrei Schnell. Foto: Andrei Schnell