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Wahlaufruf – Geh einfach hin.

17. September 2016
Zum Wahllokal. Foto Andrei Schnell.
Zum Wahl­lo­kal. Foto And­rei Schnell.

Ich gehe wäh­len, weil es doch nicht sein kann, dass mein Groß­va­ter coo­ler ist als ich. Ich mei­ne, mein Groß­va­ter war stolz auf sein Fern­seh­ge­rät in der guten Stu­be. Er muss­te auf­ste­hen, wenn er statt ARD mal ZDF sehen woll­te. Und wenn vier Jah­re rum waren, dann zog er sei­nen Anzug an und ging ins Wahl­lo­kal, um sei­ne Par­tei zu wäh­len. Mein Vater dann war stolz auf sei­ne Fern­be­die­nung. Vom Sofa aus steu­er­te er 32 Pro­gram­me an. Aber da fing es schon an, dass nichts mehr im Fern­se­hen lief und die Wahl unwich­tig wur­de. Nun bin ich stolz. Auf mei­ne App, die mir You­Tube bie­tet. Nur der Brief, der mich zur Wahl auf­ruft, stellt mich vor ein Rät­sel. Was ist da in 50 Jah­ren pas­siert? Viel­leicht ist ganz viel pas­siert und heu­te ist alles anders. Aber viel­leicht auch ist alles beim Alten, nur ich bin uncool. Des­halb schrei­be ich einen per­sön­li­chen Wahlaufruf:

Mein Wahlaufruf zur BerlinWahl2016

Denk nicht zu viel nach und geh ein­fach wäh­len! Du glaubst, der Mann auf der Stra­ße zählt nicht mehr in der Poli­tik? Die Welt ist unfair, ungleich und Du bist abge­hängt? Ich den­ke da an mei­nen Groß­va­ter, der immer erzähl­te, wie er am Pots­da­mer Platz “sich die Nase an den Schau­fens­ter­schei­ben platt­ge­drückt hat”. “Ja, es stimmt, es gab alles. Aber mein gan­zes Lehr­lings­geld ging für S‑Bahn-Fahr­schei­ne drauf.” Aber ihm war klar, dass sich dar­an von allein nichts ändern wür­de. Und als es ihm nach Krieg und Gefan­gen­schaft mög­lich war, trat er sofort in eine demo­kra­ti­sche Par­tei ein.

Denk nicht zu viel nach und geh ein­fach wäh­len! Du glaubst, die Poli­tik kann nichts mehr ent­schei­den, das erle­di­gen die Ban­ken? Die Welt ist zu glo­bal? Ich über­le­ge, wie es für mei­nen Groß­va­ter war. Plötz­lich war Deutsch­land Spiel­ball zwei­er Groß­mäch­te. Statt Glo­ba­li­sie­rung sag­te man Kal­ter Krieg. Ihm war klar, das Ade­nau­er von Mäch­ti­ge­ren abhän­gig war und des­halb den von Deutsch­land übrig geblie­be­nen Rest nach Wes­ten führ­te. Und ihm war klar, dass es trotz aller Abhän­gig­kei­ten einen Unter­schied mach­te, ob Ade­nau­er oder Schu­ma­cher regier­te – vom radi­ka­len Ulb­richt ganz abgesehen.

Denk nicht zu viel nach und geh ein­fach wäh­len! Du fin­dest bei jeder Par­tei ein Haar in der Sup­pe? Du lebst eben in einer Welt, in der Du kei­ne Bin­dung zu einer Par­tei hast? Ich sehe, das es mein Groß­va­ter ein­fa­cher hat­te. Er sag­te, in unse­rer Fami­lie haben wir immer (Biep-Ton) gewählt. Damit war er fer­tig. Das heißt, auch ihm war die Wahl nicht so wich­tig, wie der Kauf sei­nes Autos, für den er jah­re­lang über­legt hat. Ihm wäre aber klar gewe­sen, dass man dann eben eine Par­tei wie eine Zahn­pas­ta aus­wählt. Er wür­de die mit der bun­tes­ten Ver­pa­ckung neh­men – aber nicht Chlor­h­ex­a­med und ande­re radi­ka­le Lösun­gen, bloß um sich die Zäh­ne zu putzen.

Warum ich wähle

Ich gehe wäh­len, weil ich mich an mei­nen Groß­va­ter erin­ne­re. Wie er sagen wür­de: “Nun mach nicht so ein Gewe­se”.  Mög­lich, dass die Welt unglei­cher (neo­li­be­ra­ler), glo­ba­ler oder bin­dungs­lo­ser gewor­den ist. Mög­lich aber auch, dass mein Groß­va­ter ein­fach nicht ver­ste­hen wür­de, war­um ich mich so anstel­le. Als ob alles ganz beson­ders schlimm wäre heut­zu­ta­ge. “So schwer ist das doch nun auch wie­der nicht.”

Autor: And­rei Schnell. Foto: And­rei Schnell

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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