Es hat dieses Mal nicht einmal eine Minute gedauert, bis die Karten für die Berlinale-Vorstellungen im City Kino Wedding komplett verkauft waren. Nur, wer sehr schnell war und sofort noch Freischaltung der Karten auf der Berlinale-Webseite klickte, konnte am Sonntag (13.2.) in der Müllerstraße auf dem roten Teppich und im Kinosaal dabei sein. Wer es geschafft hatte, konnte im Wedding wieder „Berlinale goes Kiez“ erleben – wenn auch unter besonderen Umständen.
Der Ausverkauft-Status wurde sicherlich aus mehreren Gründen so schnell erreicht. Aufgrund des Hygienekonzepts durfte das City Kino Wedding wie alle Festivalkinos nur zur Hälfte besetzt werden, das Kartenkontingent war also begrenzter als üblich. Darüber hinaus hat das diesjährige Programm im Kiezkino nicht ohne Grund die Klicks im Ticket-Shop angezogen, denn der Wedding hat in diesem Jahr mit der Filmauswahl ein besonderes Geschenk erhalten. Zu sehen waren eine Mini-Serie aus Tschechien und ein Film aus dem offiziellen Wettbewerb, der neue von Regisseur Andreas Dresen. Zu beiden Filmen könnte man rückblickend sagen: Wer da nicht geklickt hat, ist selber schuld!
Berlinale Series: Eiskalte Mörderin oder Opfer eine Intrige?
Den Auftakt an diesem Weddinger Berlinale-Abend in der Müllerstraße machte die tschechische Serie „Poderzřenί | Suspicion“. In den zwei gezeigten Episoden lernen die Zuschauer die Krankenschwester Hana kennen. Mit wenigen Worten und unergründlicher Miene tut sie ihren Dienst seit vielen Jahren, versorgt ihre Patienten ohne einen Funken von Emotionen. Auch privat ist sie nicht anders: sachlich, kühl, unergründlich. Eine Hauptfigur wie ein Pflegeroboter mit menschlichem Antlitz. Als Hana verdächtigt wird, für den Tod einer Patientin verantwortlich zu sein, bleibt der Zuschauer ratlos im Kinosessel zurück: traut man dieser Frau, die niemals lächelt, einen Mord zu oder nicht?
Die Ermittlungen zeigen, dass Intrigen eine Rolle spielen, es gibt offenbar verschiedenste Verwicklungen. Doch trotz allem bleibt die Krankenschwester nach außen weiter kühl und sieht scheinbar nur hilflos zu, wie ihre Welt zusammenbricht. Was in ihr vorgeht, kommt nicht ans Licht. Ist Hana eine eiskalte Mörderin oder ein introvertiertes Opfer einer Intrige? „So ein Mist. Ich willl jetzt wissen, wie es weitergeht“, sagt ein Mann, als der Film endet. Doch er und die anderen Zuschauer im City Kino Wedding müssen an diesem Abend ohne Auflösung nach Hause gehen. „Die anderen beiden Teile der Serie werden hoffentlich bald auf Arte zu sehen sein“, sagt Julia Fidel, die Leiteren in der Sektion Berlinale Series. Das wird sicherlich einige Zuschauer freuen. Denn auch, wenn diese ungewöhnliche Hauptfigur gewiss keine Sympathien auf sich zieht, wollen sie sicherlich viele aus dem Kinosaal wiedersehen.
Wettbewerb: Eine Mutter kämpft gegen George W. Bush
Auch im zweiten Film im City Kino steht eine Frau im Zentrum des Geschehens: Rabiye Kurnaz. Die Deutsch-Türkin ist die Mutter von Murat Kurnaz, der nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 ohne Gerichtsverhandlung jahrelang in US-amerikanischen Gefängnissen saß – zuerst in Kandahar, dann in Guantánamo auf Kuba. Mit seinem neuesten Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ greift Regisseur Andreas Dresen einen realen Fall auf und bringt die Geschichte der in Bremen lebenden Familie Kurnaz auf die Leinwand und legt damit auch einen Finger in eine deutsche Wunde. Dresen präsentiert den Film erstmals auf der Berlinale, sechs Mal ist er im Rahmen des Filmfestivals zu sehen.
Mit der Inhaftierung ihres Sohnes gerät Rabiyes Leben aus den Tritt. Statt um ihre Familie mit zwei weiteren Kindern kümmert sie sich nun vor allem um die Rückkehr ihres 19-jährigen Sohnes Murat. Wie eine sprichwörtliche Löwin kämpft sie gegen übermächtige Kräfte um ihren Sohn, gerät von einem Tag auf den anderen vom Bremer Reihenhaus in die große Weltpolitik. Energisch, lebensfroh, etwas naiv und sehr sympathisch stellt Andreas Dresen seine Hauptfigur ins Zentrum; ausgestattet mit diesen Eigenschaften besteht sie jede der vielen Hürden auf dem Weg zur Freilassung ihres Sohnes. Mit der Schauspielerin Meltem Kaptan hat Dresen dafür eine perfekte Besetzung gefunden. Wie für sie geschrieben wirkt der Film, der unablässig um sie kreist. Aber auch der Mann an ihrer Seite, der Schauspieler Alexander Scheer trägt als Anwalt Bernhard Docke zum Gelingen dieses berührenden Films bei. Durch seine etwas steife Art wirkt die Hauptfigur noch lebensfroher und zupackender. Es wäre ein Wunder, wenn da am Ende kein Berlinale-Bär auf Hautpdarstellerin oder Film warten würde! Die Verleihung findet bereits morgen, am Mittwoch statt.
“Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush” kommt am 28. April in die deutschen Kinos.
Die Berlinale für den Kiez
Zwei tolle Filmerlebnisse brachte die Reihe „Berlinale goes Kiez“ in diesem Jahr in den Wedding. In Zeiten, in denen wegen der Corona-Pandemie viel ausfallen muss, ist das schon etwas besonderes. Das Drumherum war pandemiebedingt jedoch gewöhnungsbedürftig. Ein halb voller Kinosaal, Maskenpflicht auch während des Films, die Bar des Kinos war geschlossen, Andreas Dresen kam nicht zum Filmgespräch, der Script Writer der tschechischen Serie schickt nur eine Videobotschaft und selbst Kinobetreiberin Anne Lakeberg fehlte an diesem Abend, sie war in Quarantäne. Doch der rote Teppich lag vor dem City Kino, der Berlinale-Bär leuchtete daneben, das Filmfestival fand trotz allem in diesem Jahr statt (noch bis Sonntag, 20. Februar) und war sogar wieder im Wedding zu Gast. Wenn das kein Schritt in Richtung normal ist!
Kuratiert wurde die Reihe, die Berlinale-Filme in kleine Kiezkinos in der ganzen Stadt bringt, übrigens von Anna Jurzik. Sie hat „Poderzřenί | Suspicion“ und „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ in den Wedding geleitet und die Aufmerksamkeit somit auch auf das Kiezkino und seine engagierte Kinobetreiberin Anne Lakeberg gelenkt. Eine Wertschätzung, die gerade besonders wichtig ist – für jedes Kiezkino in Berlin.
Berlinale-Service
Die Berlinale geht noch bis Sonntag (20.2.). Karten für die Vorführungen gibt es immer ab drei Tage im Voraus online unter www.berlinale.de. Der offizielle Wettbewerb der 72. Internationalen Filmfestspiele endet am Mittwoch mit der Verleihung der silbernen und goldenen Bären. Es folgen noch vier Publikumstage, an denen viele Filme nochmals gezeigt werden. Mehr dazu und zum Hygienekonzept gibt es ebenfalls online. Im Beitag Die Berlinale 2022 im Wedding stehen weitere Berlinale-Veranstaltungen im Wedding – im Savvy Contemporary und im Silent Green Kulturquartier.