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Achtsamkeitskolumne:
Unser Leben mit Grenz-Fällen

19. November 2023

Heu­te fah­re ich mit der Tram die Ber­nau­er Stra­ße her­un­ter, die eine Gren­ze zwi­schen dem alten Bezirk Mit­te und dem Wed­ding mar­kiert. Alles dreht sich hier um genau die­ses The­ma: Gren­zen. Wie sie gezo­gen wur­den, wie sie gesetzt wur­den, wie sie (not­falls mit Gewalt) gewahrt wur­den, wie sie über­wun­den oder unter­wan­dert wur­den, wie sie in Fra­ge gestellt und wie sie geöff­net wurden.

Das Hotel Grenzfall in der Ackerstraße. Foto: Stephanie Esser
Das Hotel Grenz­fall in der Acker­stra­ße. Foto: Ste­pha­nie Esser

Betreten verboten!

An der Hal­te­stel­le „Gedenk­stät­te Ber­li­ner Mau­er“ stei­ge ich aus und bie­ge in den Wed­din­ger Teil der Acker­stra­ße ein. Wer hier ent­lang geht, kommt um das The­ma Gren­zen nicht her­um. Neben dem Aus­sichts­turm befin­det sich ein ein­ge­zäun­ter, abge­schlos­se­ner Bereich – der Mie­ter­gar­ten für die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner der anlie­gen­den Häu­ser. Ein Stück­chen wei­ter ist das Hotel Grenz­fall ange­sie­delt, in dem Tou­ris­ten für eine Wei­le woh­nen kön­nen. Pri­va­ter Raum und öffent­li­cher Raum tref­fen hier auf­ein­an­der. Damit die Leu­te sich nicht im Mie­ter­gar­ten breit machen und über die zar­ten Pflänz­chen lat­schen, haben die Anwoh­ner eine Gren­ze gezo­gen. Sie schützt den Bereich vor der Acht­lo­sig­keit, die so man­che Men­schen an den Tag legen, wenn es nicht um ihre eige­nen Belan­ge geht.

Was ist dein Tanzbereich?

Als Men­schen loten wir ein Leben lang unse­re und die Gren­zen ande­rer aus. Immer wie­der fra­gen wir uns: Wer bin ich, wer sind die ande­ren? Was ist mein Bereich, was ist der Bereich der ande­ren? Wie nah kann oder will ich ande­ren kom­men, wie nah kön­nen oder dür­fen ande­re mir kom­men? Inner­halb wel­cher Gren­zen gehö­re ich dazu, wo habe ich das Gefühl, außen zu ste­hen? Das gilt sowohl für unser Inne­res als auch für anfass­ba­re, räum­li­che Ter­ri­to­ri­en. Mal sind wir Teil der Grup­pe, mal nicht.

Wir alle haben unse­re Grenz­be­rei­che und dür­fen uns täg­lich fra­gen, ob sich die­se in einem gesun­den Rah­men bewe­gen. Ich stel­le es mir vor wie einen Tanz, den Per­so­nen mit­ein­an­der tan­zen. Das kann wun­der­bar inein­an­der­grei­fen, aber man kann auch schnell mal jeman­dem auf die Füße tre­ten. Der Mie­ter­gar­ten zeigt das deut­lich. Wenn alle Men­schen Rück­sicht näh­men und pfleg­lich mit der inne­ren und äuße­ren Welt umge­hen wür­den, bräuch­te es kei­nen Zaun. Nicht um die­sen Mie­ter­gar­ten und auch sonst nirgends.

Der Mietergarten in der Ackerstraße beziehungsweise an der Bernauer Straße ist eingezäunt. Foto: Stephanie Esser
Der Mie­ter­gar­ten in der Acker­stra­ße bezie­hungs­wei­se an der Ber­nau­er Stra­ße ist ein­ge­zäunt. Foto: Ste­pha­nie Esser

Gehen wir gemeinsam

Da wir jedoch nicht von ande­ren Rück­sicht und Acht­sam­keit for­dern kön­nen, wenn wir sie selbst kaum an den Tag legen, dür­fen wir uns immer wie­der fra­gen: Wo ach­te ich die Gren­zen der ande­ren nicht? Wo zei­ge ich ande­ren nicht klar genug, wo mei­ne Gren­ze ist? Wo zie­he ich eine Gren­ze, die ande­ren scha­det? Wo scha­de ich mir mit bestimm­ten eige­nen Gren­zen sogar selbst?

Das Leben und unser Mit­ein­an­der ist gespickt mit unzäh­li­gen Grenz-Fäl­len, die sich nicht immer zur Zufrie­den­heit aller lösen las­sen. Doch wenn wir begrei­fen, dass wir als Men­schen Teil die­ser Welt und des­halb alle mit­ein­an­der ver­bun­den sind – dann begrei­fen wir viel­leicht auch, dass wir in Wirk­lich­keit nur gemein­sam wei­ter­kom­men. Dafür müs­sen wir nicht sofort sämt­li­che Zäu­ne abbau­en und alle Gren­zen auf­lö­sen – wir kön­nen sie aber alle zusam­men Stück für Stück unwich­ti­ger machen.

Grafik: Stephanie Esser
Gra­fik: Ste­pha­nie Esser

Stephanie Esser

Stephanie Esser lebt und arbeitet im Brunnenviertel. Auf ihrem Blog www.danke-ich-liebe-dich.de schreibt sie über das Hawaiianische Vergebungsritual Ho’oponopono und darüber, wie wir unser tägliches (Zusammen-)Leben positiver gestalten können.

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