Heute fahre ich mit der Tram die Bernauer Straße herunter, die eine Grenze zwischen dem alten Bezirk Mitte und dem Wedding markiert. Alles dreht sich hier um genau dieses Thema: Grenzen. Wie sie gezogen wurden, wie sie gesetzt wurden, wie sie (notfalls mit Gewalt) gewahrt wurden, wie sie überwunden oder unterwandert wurden, wie sie in Frage gestellt und wie sie geöffnet wurden.
Betreten verboten!
An der Haltestelle „Gedenkstätte Berliner Mauer“ steige ich aus und biege in den Weddinger Teil der Ackerstraße ein. Wer hier entlang geht, kommt um das Thema Grenzen nicht herum. Neben dem Aussichtsturm befindet sich ein eingezäunter, abgeschlossener Bereich – der Mietergarten für die Bewohnerinnen und Bewohner der anliegenden Häuser. Ein Stückchen weiter ist das Hotel Grenzfall angesiedelt, in dem Touristen für eine Weile wohnen können. Privater Raum und öffentlicher Raum treffen hier aufeinander. Damit die Leute sich nicht im Mietergarten breit machen und über die zarten Pflänzchen latschen, haben die Anwohner eine Grenze gezogen. Sie schützt den Bereich vor der Achtlosigkeit, die so manche Menschen an den Tag legen, wenn es nicht um ihre eigenen Belange geht.
Was ist dein Tanzbereich?
Als Menschen loten wir ein Leben lang unsere und die Grenzen anderer aus. Immer wieder fragen wir uns: Wer bin ich, wer sind die anderen? Was ist mein Bereich, was ist der Bereich der anderen? Wie nah kann oder will ich anderen kommen, wie nah können oder dürfen andere mir kommen? Innerhalb welcher Grenzen gehöre ich dazu, wo habe ich das Gefühl, außen zu stehen? Das gilt sowohl für unser Inneres als auch für anfassbare, räumliche Territorien. Mal sind wir Teil der Gruppe, mal nicht.
Wir alle haben unsere Grenzbereiche und dürfen uns täglich fragen, ob sich diese in einem gesunden Rahmen bewegen. Ich stelle es mir vor wie einen Tanz, den Personen miteinander tanzen. Das kann wunderbar ineinandergreifen, aber man kann auch schnell mal jemandem auf die Füße treten. Der Mietergarten zeigt das deutlich. Wenn alle Menschen Rücksicht nähmen und pfleglich mit der inneren und äußeren Welt umgehen würden, bräuchte es keinen Zaun. Nicht um diesen Mietergarten und auch sonst nirgends.
Gehen wir gemeinsam
Da wir jedoch nicht von anderen Rücksicht und Achtsamkeit fordern können, wenn wir sie selbst kaum an den Tag legen, dürfen wir uns immer wieder fragen: Wo achte ich die Grenzen der anderen nicht? Wo zeige ich anderen nicht klar genug, wo meine Grenze ist? Wo ziehe ich eine Grenze, die anderen schadet? Wo schade ich mir mit bestimmten eigenen Grenzen sogar selbst?
Das Leben und unser Miteinander ist gespickt mit unzähligen Grenz-Fällen, die sich nicht immer zur Zufriedenheit aller lösen lassen. Doch wenn wir begreifen, dass wir als Menschen Teil dieser Welt und deshalb alle miteinander verbunden sind – dann begreifen wir vielleicht auch, dass wir in Wirklichkeit nur gemeinsam weiterkommen. Dafür müssen wir nicht sofort sämtliche Zäune abbauen und alle Grenzen auflösen – wir können sie aber alle zusammen Stück für Stück unwichtiger machen.