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Der blau-weiß-rote Wedding

2. Juli 2014
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Vor der Kaser­ne, vor dem gro­ßen Tor – vie­le jun­ge Ber­li­ne­rin­nen stan­den in den Acht­zi­ger­jah­ren vor der größ­ten Kaser­ne der Stadt, dem Quar­tier Napo­lé­on und war­te­ten auf die jun­gen fran­zö­si­schen Wehr­pflich­ti­gen, um von hier aus neu­gie­rig das Nacht­le­ben der Stadt mit ihrer absur­den Insel­la­ge zu erkun­den. Fini, aus und vor­bei. Zwan­zig Jah­re ist es 2014 her, dass die Fran­zo­sen ihre Sol­da­ten aus Ber­lin abge­zo­gen haben. Was ist aus die­ser Zeit geblie­ben – außer einem erklä­rungs­be­dürf­ti­gen Denk­mal vor der Kaserne?

Die St-Louis-Kirche
Die St-Lou­is-Kir­che

Kirche und Kino für Franzosen

Nur weni­gen Wed­din­gern ist über­haupt bewusst, dass die­ses Gelän­de am Flug­ha­fen noch zu ihrem Orts­teil gehört. Dort waren im Durch­schnitt um die 1 700 fran­zö­si­schen Rekru­ten sta­tio­niert, die in der geteil­ten Stadt – bei etwas höhe­rem Sold als im Mut­ter­land – ihren Wehr­dienst in Ber­lin ableis­te­ten. Ursprüng­lich ist der 90 Hekt­ar gro­ße Mili­tär­stand­ort in der Nazi­zeit eigent­lich für die Luft­waf­fe erbaut wor­den, doch die Fran­zo­sen kon­zen­trier­ten nach dem Krieg fast ihre gesam­te Infan­te­rie- und Pan­zer­ab­wehr­gar­ni­son an die­sem Stand­ort. Außer­dem ergänz­ten sie die sech­zig Gebäu­de der Kaser­ne 1953 sogar um eine eige­ne Kir­che. Die unge­wöhn­li­che Egli­se Saint-Lou­is wur­de in die Kaser­nen­mau­er hin­ein­ge­baut (Ent­wurf: André Cha­te­lain). Zum Kurt-Schu­ma­cher-Damm zwar fens­ter­los, besitzt sie zur Stra­ße hin sehens­wer­te Reli­efs, die das Jüngs­te Gericht dar­stel­len. Auch ein Kul­tur­haus mit dem Kino L’Ai­glon ergänzt das Ensem­ble seit 1956. Die geschwun­ge­nen For­men, die Leucht­schrift und die groß­zü­gi­ge Ver­gla­sung sind typisch für den Geschmack der 50er-Jah­re. Ein Jam­mer, dass die­ses Gebäu­de seit zwan­zig Jah­ren leer steht und verfällt…Der Voll­stän­dig­keit hal­ber sei erwähnt, dass die Bun­des­wehr in der heu­te nach Juli­us Leber benann­ten Kaser­ne das Wach­ba­tail­lon und die Feld­jä­ger unter­ge­bracht hat.

 

So lebte es sich im französischen Wedding

Kino L'Aiglon Quartier Napoleon

“Die Offi­zie­re und Unter­of­fi­zie­re leb­ten in Ber­lin prak­tisch wie in Frank­reich”, erin­nert sich Marie-Chris­ti­ne Pol­let, die eini­ge Jah­re lang als Zivil­an­ge­stell­te bei der Armee beschäf­tigt war. “In der Kaser­ne arbei­te­te man, pri­vat leb­te man in den Cités, die Städt­chen für sich waren.” Für Fami­li­en gab es eine Sied­lung in Wit­ten­au. Die Cité Joff­re (am heu­ti­gen Zen­tra­len Fest­platz am Kurt-Schu­ma­cher-Damm) war hin­ge­gen der Stand­ort, wo die Jung­ge­sel­len und Jung­ge­sel­lin­nen der Armee unter­ge­bracht waren. Zwi­schen 1953 und 1962 wur­den etwa 300 Woh­nun­gen in locker ange­ord­ne­ten Mehr­fa­mi­li­en­häu­sern errich­tet, und noch heu­te hat die­se rei­ne Wohn­sied­lung im Grü­nen einen sehr vor­städ­ti­schen, wed­ding-unty­pi­schen Charme. Für die Wehr­pflich­ti­gen war es sicher eine Ein­schrän­kung, weit weg von ihren Fami­li­en in Frank­reich ein­ge­setzt zu sein, aber dafür ver­füg­ten die Sol­da­ten über gewis­se Pri­vi­le­gi­en wie mehr­wert­steu­er­freie Ein­käu­fe, so Marie-Chris­ti­ne Pollet.

Denkmal vor der Kaserne
Denk­mal vor der Kaserne
 

Kleingärten und Volksfest tragen den NamenKleingärtnerverein Quartier Napoleon

Noch heu­te erin­nert bei genaue­rem Hin­se­hen vie­les an die­se Zeit, doch ohne Erklä­run­gen erschlie­ßen sich die Relik­te von fast 50 Jah­ren fran­zö­si­scher Prä­senz nicht mehr. So heißt das Trai­nings­ge­län­de der Fran­zo­sen noch immer “Sta­de Napo­lé­on” und wird als Ame­ri­can Foot­ball-Platz der Ber­lin Adler genutzt; ein Klein­gar­ten­ver­ein führt noch immer den Namen “Quar­tier Napo­lé­on” im Namen. Ein ver­gilb­tes Schild an der Kaser­nen­mau­er warnt noch auf fran­zö­sisch vor den bis­si­gen Mili­tär­hun­den. Auch die Stra­ßen­na­men in der ehe­ma­li­gen “Cité Joff­re” haben einen Bezug zu Frank­reich – so gibt es bei­spiels­wei­se die Allee du Sta­de oder eine Tour­co­ing-Stra­ße, 1992 benannt nach der lang­jäh­ri­gen Part­ner­stadt des Wed­ding in Nordfrankreich.

 

Plakat deutsch-französisches VolksfestAnnäherung an die Berliner

Aus Tour­co­ing stammt auch Marie-Chris­ti­ne Pol­let, die nach einem Jugend­aus­tausch nach Ber­lin ein Job-Ange­bot vom Rat­haus Wed­ding erhielt, mal eini­ge Zeit dort woh­nen woll­te – und am Ende 29 Jah­re in Ber­lin blieb. Ein paar Jah­re lang waren die Forces franςai­ses auch ihr Arbeit­ge­ber. “Die West­al­li­ier­ten waren all­ge­mein recht gut ange­se­hen, da sie mit der Zeit von Besat­zungs­mäch­ten zu Schutz­mäch­ten, die die Sicher­heit West Ber­lins garan­tier­ten, gewor­den waren”, erin­nert sie sich. 1979 kam sogar ein­mal der fran­zö­si­sche Prä­si­dent zu Besuch in den Wedding.

Centre Francais IMG_20140621_163609

Offen für die Ber­li­ner Bevöl­ke­rung war auch das Ange­bot des Cent­re Cul­tu­rel Fran­çais an der Mül­lerstra­ße, das noch heu­te mit star­kem Frank­reich-Bezug genutzt wird. Fern­ab von Mili­tär, mit­ten in einem typi­schen Wed­din­ger Wohn­ge­biet, prä­sen­tier­te sich die Schutz­macht von ihrer bes­ten Seite.„Es gab eine Biblio­thek, ein Kino, Aus­stel­lun­gen und sogar fran­zö­si­sche Koch­kur­se“, berich­tet Flo­ri­an Fang­mann, der Geschäfts­füh­rer des heu­te als Cent­re Fran­çais de Ber­lin bezeich­ne­ten Gebäu­des. Ein Hotel und ein Restau­rant gehö­ren eben­falls zum “Cent­re”. Nach jah­re­lan­ger Schlie­ßung ist das ehe­ma­li­ge Kino jetzt wie­der als Ver­an­stal­tungs­saal nutz­bar. So wird auch hier ein Stück jün­ge­rer Wed­din­ger Geschich­te in die heu­ti­ge Zeit hin­über­ge­ret­tet. Das deutsch-fran­zö­si­sche Volks­fest auf dem Zen­tra­len Fest­platz erin­nert eben­so in jedem Som­mer an die Jah­re, in denen Frank­reich in West-Ber­lin als Schutz­macht fungierte.

 

deutsch französische KitaParlez-vous français?

Fran­zö­sisch hört man aber auch stän­dig an der Afri­ka­ni­schen Stra­ße. Seit 1980 gibt es dort die städ­ti­sche “deutsch-fran­zö­si­sche Kita”. Die­se wen­det sich spe­zi­ell an deutsch-fran­zö­si­sche Fami­li­en, um dem Dop­pel­sprach­er­werb und der Bikul­tu­ra­li­tät ihrer Kin­der Rech­nung zu tra­gen. Heu­te sind es auch die Mit­glie­der der afri­ka­ni­schen Com­mu­ni­ty, die die fran­zö­si­sche Spra­che auf Wed­dings Stra­ßen brin­gen. Der Radio- und der Fern­seh­sen­der, der frü­her auf fran­zö­sisch aus dem Quar­tier Napo­le­on sen­de­te, ist hin­ge­gen längst ver­stummt. Mit die­sem Kapi­tel Ber­li­ner Geschich­te, das als posi­tiv wahr­ge­nom­men wur­de, setzt sich heu­te kaum jemand aus­ein­an­der. Zwar hat der Bezirk Ber­lin-Mit­te (der sich aus Alt­be­zir­ken aus dem bri­ti­schen, dem sowje­ti­schen und dem fran­zö­si­schen Sek­tor zusam­men­setzt) die Städ­te­part­ner­schaft mit Tour­co­ing über­nom­men, doch eine leben­di­ge Erin­ne­rung an die enge Bin­dung des Wed­ding an das west­li­che Nach­bar­land Deutsch­lands wird vom Bezirks­amt nicht son­der­lich begeis­tert gepflegt. Ledig­lich das Les­sing-Gym­na­si­um hat offi­zi­ell eine Part­ner­schu­le in Tour­co­ing. Den “Bal popu­lai­re” auf dem Rat­haus­vor­platz, her­aus­ra­gen­de Kunst­aus­stel­lun­gen oder staat­lich geför­der­te Sprach­kur­se im Cent­re Fran­çais wird es sicher nicht wie­der geben. Das ist sehr bedau­er­lich, da die fran­zö­si­sche Note doch ein Allein­stel­lungs­merk­mal des Wed­ding gegen­über ande­ren Stadt­tei­len wie Moa­bit, Kreuz­berg oder Fried­richs­hain dar­stel­len könn­te. Ein  Befas­sen mit die­sem Teil der Geschich­te des “blau-weiß-roten Wed­ding” steht also noch aus und ist sicher ein loh­nens­wer­te Beschäf­ti­gung. Der über die Gren­zen des Wed­ding hin­aus bekann­te Mini-Eif­fel­turm vor dem Cent­re Fran­çais in der Mül­lerstra­ße reicht dafür nicht aus.

 
 
Eiffelturm vor dem Centre Francais

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

7 Comments Leave a Reply

  1. Wie immer ein schö­ner Arti­kel! Dan­ke­schön! Was jedoch nicht ganz stimmt ist, dass rund um das Cent­re Fran­cais ein “typi­sches Wed­din­ger Wohn­ge­biet” war, denn ein Groß­teil der Häuser/Wohnungen rund um das Cent­re Fran­cais war Mit­ar­bei­tern (soweit mir bekannt ist Offi­zie­ren) der fran­zö­si­schen Alli­ier­ten vor­be­hal­ten und ist extra für die­se gebaut wor­den (z. B. der wei­ße Häu­ser­block Lon­do­ner Stra­ße sowie Häu­ser in der Them­se­stra­ße) – Ein span­nen­des Stück Zeit­ge­schich­te, denn dort gibt es in den Kel­lern, bei den Müll­plät­zen, z. T. auch in den Woh­nun­gen, noch Beschriftungen/Hinweisschilder in fran­zö­si­scher Spra­che und die Woh­nun­gen haben einen für dama­li­ge Zeit sehr hohen Standard.

  2. Bes­ten Dank für die inter­es­san­te Zusam­men­stel­lung. Bin zwar nur gele­gent­lich als Tou­rist in Ber­lin, aber nun umso bes­ser infor­miert. Wis­sen Sie oder einer der Leser viel­leicht etwas über die “Mau­er­res­te”, die zwi­schen Sta­de Napo­lé­on und dem heu­ti­gen Fest­platz am Ber­lin-Span­dau­er Schiff­arts­ka­nal zu sehen sind? Dar­an bin ich kürz­lich mit dem Boot vor­bei­ge­fah­ren und mich wür­de inter­es­sie­ren, wofür auch die Beleuch­tungs­an­la­gen etc. an die­ser Stel­le gebaucht wurden.

  3. En Sep­tembre 2014, du 12 au 19, nous serons 90 anci­ens mili­taires Fran­çais en voya­ge à Ber­lin pour revoir et visi­ter nos anci­en­nes instal­la­ti­ons et pour nous rap­pe­l­er de beau­coup de bons sou­ve­nirs de la ville de Berlin.
    Im Sep­tem­ber 2014, von 12 bis 19, wir sind 90 ehe­ma­li­ge Fran­zö­sisch Mili­tär Rei­se nach Ber­lin zu besu­chen und zu über­den­ken unse­re alten Sys­te­me und uns vie­le schö­ne Erin­ne­run­gen an die Stadt Ber­lin erinnern

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