Die Seniorenvertretung Mitte hat derzeit 18 Mitglieder und einige von ihnen sind langjährig im Wedding beheimatet und hier seniorenpolitiisch aktiv. Ich sprach mit Sibylla Dittrich, die im Sprengelkiez seit ihrer Kindheit verwurzelt ist. Sie engagiert sich seit etlichen Jahren sowohl in der SVM als auch vor Ort im Sprengelhaus für die Belange der Älteren und das L(i)ebenswerte in der Nachbarschaft.
Auch wenn Seniorenvertretung zunächst trocken klingt, ist dies mit viel Engagement, Besprechungen und oft auch mit Wut über Ignoranz gegenüber den Alten im Stadtleben und in der Gesellschaft verbunden.
Die Seniorenvertretungen in allen Berliner Bezirken gehen auf das Berliner Seniorenmitwirkungsgesetz (BerlSenG) zurück. Demnach sollen mindestens 13 Delegierte je Bezirk eingesetzt sein. Zuletzt wurde Anfang 2022 gewählt.
Diese gewählten Vertreter*innen sind mindestens 60 Jahre alt, arbeiten parteipolitisch neutral, unabhängig und konfessionell ungebunden und gemeinsam an den Aufgaben zur Seniorenpolitik.
Frau Dittrich, auf welche Weise sind Sie im Wedding verwurzelt?
Ich bin hier aufgewachsen. Ich ging hier zur Grundschule und zum Ranke-Gymnasium. Zum Studium ging ich weg, habe dann aber 40 Jahre, davon 20 Jahre in einer Brennpunktschule, als Lehrerin im Wedding gewirkt. Ich unterrichtete Deutsch, Arbeitslehre, Biologie, aber Ethik war mein Lieblingsfach.
Meine Eltern zogen bereits 1956 hierher und lebten bis 2016 im Sprengelkiez. Ich pflegte meine Eltern und nach deren Tod und nach meiner eigenen Pensionierung zog ich zurück in die elterliche Wohnung. Somit bin ich einheimisch mit viel Ortskenntnis und historischen Erlebnissen. Viele meiner Nachbarn kennen mich noch als ihre Lehrerin.
Meine wirklich schöne Kindheit, die ich in diesen Höfen des Sprengelkiez und auf den damals noch arm an Autoverkehr und daher für Kinderspiele noch geeigneten Straßen des Wedding erlebte, habe ich einmal im Kiezbote 5/2011 erzählt.
Wie kam es, dass Sie sich in der Seniorenvertretung Mitte engagierten?
Meine Eltern waren auch bereits recht gut integriert. Sie nutzten später im Alter die Angebote der ehemaligen Visastelle, die es am Maxplatz gab. Dort wurden damals die Passierscheine für diejenigen Westbewohner ausgegeben, die besuchsweise nach Ostberlin einreisen wollten. Später, nach dem Fall der Mauer, hat man dieses Gebäude als Seniorentreff genutzt, Meine Eltern haben dort im Chor gesungen, Kaffee getrunken, mein Vater hat gezaubert und so vieles mehr. Als dieser Treffpunkt aufgelöst wurde, waren meine Eltern um viele schöne Aktivitäten ärmer und wirklich sehr traurig.
Ich erlebte damals, wie bereichernd es für die alten Menschen ist, aktiv im Leben zu stehen und sich auszutauschen. Mit dem Tod meiner Eltern bemerkte ich plötzlich auch die Stille um die alten Nachbarn, es fehlte der aktive Anspruch an die Mitwelt durch die Älteren. Es gab weder Räume, Orte noch irgendeine Vertretung für Senioreninteressen. Die Situation zeigte sich nun eher unbefriedigend, denn ich selber war nun in Pension.
Frau Dittrich, seit wann wirken Sie im Rathaus Tiergarten in der SV Mitte mit?
In der Stadtteilvertretung mensch.müller, die an der Triftstraße ihr Ladenbüro hat, fiel mir ein Flyer in die Hände, in dem für die Wahl zur Seniorenvertretung geworben wurde. Mir wurde klar, da ich an etwas Sinnvollem weiterarbeiten wollte, dass dies mein Engagement werden würde. So kandidierte ich im Jahr 2017 für die Seniorenvertretung, und ich wurde gewählt!
Wie steht Ihr Bezug zum Wedding mit den SVM-Aktivitäten in Zusammenhang?
Mein sozialer Ankerpunkt für meine Seniorenaktivitäten ist das Sprengelhaus, das am 4. September 2022 sein 20-jähriges Jubiläum feierte.
Dort findet jeweils donnerstags einen Senioren-Salon statt, den Siemen Dallmann gibt. Der Salon ist recht gut besucht und vielseitig.
Aktuell bieten wir zum Thema Älter werden im Sprengelkiez am Dienstag 25.4.23 15 Uhr im Sprengelhaus QuerGebäude 2. OG (Fahrstuhl) an. Zusammen mit Siemen Dallmann vom Sprengelhaus und mit Gerhard Hegemann vom SVM werde ich diese Veranstaltung geben.
Auch unser Runder Tisch (RT) ist ein wichtiger Teil der Abstimmung unserer Vorhaben vor Ort, dabei sind etliche Personen Ü 60 zusammen mit weiteren Unter-60-Jährigen aktiv, um die Veranstaltungen in unserem Kiez zu planen.
Frau Dittrich, was sind Ihre Schwerpunkte bei SV Mitte?
Durch die starke Beheimatung im Sprengelkiez ist mein Schwerpunkt auch die Verbindung zum Sprengelhaus, das eine breite Basis für die Nachbarschaft und deren Aktivitäten ist.
Was streben Sie in SVM an?
Ich habe das allgemeine Anliegen, den Alten eine Stimme zu geben und deren Interessen zu vertreten. Dabei geht es im das Öffentlichmachen deren Anliegen und das Übergeben der Anliegen in die Politik.
Haben Sie vor Ort eine Beratungsstunde oder eine Seniorengruppe?
Ich gebe regelmäßige Sprechstunden, wobei ich jedoch nicht berate, sondern die Anfragen und Situationen erhöre und die Ratsuchenden an die richtigen Stellen weiterleite.
Es gibt viel Altersarmut in den Berliner Bezirken und so auch hier im Bereich Wedding-Zentrum.
Mein Eindruck ist, dass viele Seniorinnen in der Grundsicherung, besser als alte Männer, noch passabel mit der Knappheit zurechtkommen. Sie sind lebenspraktisch veranlagt und erfahren und richten sich ein, so dass man hier keine Flaschen-Sammlerinnen sieht oder andere Nöte, die besorgniserregend sind. Der Mangel ist offenbar heftig vorhanden. Da hilft die Osterkirche sehr, z. B. mit der Lebensmittelausgabe Laib und Seele und gemeinsamen Mahlzeiten. Die Kulturteilhabe ist eher schwierig. Da, wo heute 1 € Eintritt genommen wird, weil das Sprengelhaus neuerdings eine Mieterhöhung stemmen muss, erfährt man schnell, dass dieser Euro schon gedreht und gewendet wird und bereits von einer Teilnahme abschreckt.
Welche kooperierenden Partner haben Sie dafür?
In der Seniorenvertretung arbeiten wir in verschiedenen Arbeitsgruppen zu Themen wie Mobilität, Wohnen, Heimbeiräte, Altersarmut. Die Ergebnisse von dort bringen wir in die Gremienarbeit ein.
Frau Dittrich, gibt es weitere SVM-Vertreter*innen im Wedding?
Einige andere Delegierte sind bei uns im Wedding beheimatet und aktiv. So Ursel Wenzel, Herbert Probst und Gerhard Hegemann, mit dem ich im Sprengelhaus gemeinsame Veranstaltungen gebe. Wir pflegen keine Arbeitsteilung in den Kiezen. Die Ergebnisse der AGs und der Stadtteile allerdings tragen wir gemeinsam zusammen. Wir haben ein Projekt „Seniorenarbeit fördern“, das Siemen Dallmann leitet, und das läuft gut.
Was sind bisherige Erfolge der SVM-Arbeit?
Wir haben keine persönlichen Erfolge unserer Mühen. Wir arbeiten im Team. Ein wesentlicher Erfolg der Seniorenvertreter in der Coronazeit war, die alten Menschen davor zu schützen, sie von der Öffentlichkeit auszuschließen, wie es im Lockdown von vielen Seiten bequem und unbedacht gefordert wurde. Es wäre fatal für die psychische Gesundheit der Senior*innen gewesen, sie in ihren Wohnungen einzusperren und sie damit, also durch totale Isolation, schützen zu wollen.
Haben Sie ein gelungenes Beispiel für ein intergenerationelles Projekt im Kiez?
Konkret gab es etwa Mitte der 2010er Jahre ein integratives Projekt mit ausländisch-stämmigen Schüler*innen, die alte Menschen aus dem Wedding zu ihren Lebenserinnerungen befragten und dies aufschrieben. Diese „Zettel“ haben wir bei einer großen Aktion auf dem Leopoldplatz aufgehängt und den Besuchern zugänglich gemacht. Für die jungen Schüler*innen war es ein tolles Erlebnis, diese Stories zu erfahren und dies auch selbst aufzuschreiben. Eine tolle Leistung dieser Kinder!
Sie als Expertin für ihre Weddinger Heimat: Wie hat sich der Wedding im Hinblick auf die Lebensumwelt der Alten verändert?
Heute gibt es weniger Geschäfte in Fußnähe, dafür mehr Cafes und Restaurants. Es gibt weniger Ausländer und wieder mehr Familien. Mein Eindruck ist, dass die Gemeindearbeit der Osterkirche Zulauf findet, auch bei den Kleinen schon.
Frau Dittrich, was wünschen Sie sich – heute selbst Seniorin – vom Alltag im Wedding?
Was soll erst aus den bisherigen Problemen der Alten werden, wenn die starke Nachkriegsgeneration nach und nach in Rente geht?
Was das Alltägliche angeht, kann man sagen: Die Nutzung der Toiletten, sofern bei uns öffentliche überhaupt vorhanden sind, sollte wie in Belgien per Gesetz allerorten gestattet sein.
Schön wären auch mehr Bänke zum Verweilen!
Mitte ist der zweitjüngste der 12 Bezirke in Berlin und meiner Auffassung nach ist das Wichtigste das respektvolle Mit- und Nebeneinander der Generationen. Das rücksichtsvolle Zusammensein aller Verkehrsteilnehmer in den Wohngebieten ist auch vonnöten.
Die Radfahrer sollten endlich die Straßen statt die Bürgersteige nutzen!
Frau Dittrich, vielen Dank für dieses Gespräch!
Gespräch, Fotos und Text © Renate Straetling
Links
Kiezbote 5/2011 mit einem Beitrag von Sibylla Dittrich über ihre Kindheit im Wedding
Seniorenvertretung Mitte (SVM)
https://www.berlin.de/ba-mitte/politik-und-verwaltung/aemter/amt-fuer-soziales/seniorenvertretung/
Leitlinien der SV
Sprechstunden der SVM nach Orten innerhalb Mitte
https://www.tagesspiegel.de/berlin/frust-nach-der-wahl-8109811.html
https://xn—60-wka.berlin/index.php
Aktivitäten für Ältere
https://www.seniorennetz.berlin/
Begegnungsstätten für Ältere in Mitte