90 Minuten Redezeit, drei Minuten pro Wortmeldung und los auf los. Die Mitgliederversammlung der SPD-Mitte im früheren Saal der BVV im Rathaus Tiergarten/Moabit läuft straff ab. 18 Wortmeldungen schaffen die Parteimitglieder am Mittwochabend. Es geht um die Folgen der Wiederholungswahl. Die meisten Genossen sprechen sich an diesem Abend gegen die Koalition mit der CDU auf Landesebene aus. Dabei waren zwei der Redebeiträge am 22. März besonders.
Wie grundsätzlich weiter?
Der erste besondere Moment tritt ein, als es plötzlich sehr still ist in dem ehrwürdigen Saal mit den Holzbänken und dem Rednerpult, das noch das Wappen des aufgelösten Bezirks Tiergarten (ein Hirsch auf rotem Grund) zeigt. Ist es ein betroffenes Schweigen oder wollen die Mitglieder der SPD-Mitte den leise sprechenden Mann bloß gut verstehen? Vorn steht gerade Guido Rohmann, einer von zwei Vorsitzenden des Ortsverbandes Schillerpark. Der Politikwissenschaftler wählt nicht die laute, aufgewühlte, mitreißende Stimmlage, sondern eine nachdenkliche. Er spricht wie jemand, der die Antwort nicht weiß. “Wie machen wir als Partei weiter?” Es ist eine Frage wie eine Kinderfrage; sie ist einfach in der Formulierung und stößt vor bis zum letzten Grund. “Es ist den Menschen nicht klar, wofür wir stehen”.
Luft holen.
An Guido Rohmanns Frage schließen sich fast zwangsläufig weitere Fragen an. Wissen zunächst die Genossen, wofür die SPD steht? Und wer soll über den Standort nachdenken, die Basis oder eine Kommission nebst Werbeagentur?
Doch Politik, so scheint es an diesem Abend, ist kein Theoriefeld, sie ist eine praktische Übung. Das zeigen die Redebeiträge, die sich beinahe ausschließlich um das Ja oder Nein beim nahenden Mitgliedervotum drehen und eben nicht über den Horizont hinausgehen. Drängend ist für die Genossen der Berliner SPD die konkrete Abwägung, ob ihre Partei auf Landesebene mit der CDU koalieren soll oder nicht. Vom 4. bis zum 21. April wird die Abstimmung an der Parteibasis laufen. Parallel lädt die Parteispitze zu mehreren Mitgliederforen ein, auf denen der Koalitionsvertrag vorgestellt wird. Diese Abstimmung löst ausreichend Redebedarf aus, der die Versammlung am 22. März für Genossen im Bezirk Mitte Raum geben will.
Soll eine schwarze Frau Kai Wegner ins Rathaus verhelfen?
Der zweite besondere Moment kommt, als Anab Awale von der Abteilung Moabit-Nord spricht: “Ich habe im Wahlkampf als schwarze Frau gesagt, meine SPD wird nicht mit Kai Wegner von der CDU regieren”. Den Beifall, den sie erhält, dauert gut eine halbe Minute. Niemand sonst erhält an diesem Abend so aus der Seele gespendeten Applaus. Sie erinnert daran, dass das Topthema im Wahlkampf gewesen sei, dass die SPD ins Rathaus wolle. Es habe geheißen, dass die SPD selbst bei einem Einlauf auf Platz 2 nicht mit der CDU zusammengehen werde. “Trotz Wahl läuft doch die Wahlperiode weiter, das heißt wir kündigen gerade”, beschreibt Anab Awale die Absage der SPD-Verhandler an Rot-Rot-Grün. Deshalb sei sie auch nicht überrascht, dass die CDU Zugeständnisse mache, “denn wir bringen die ins Rathaus”. Anab Awale hat in ihrer dreiminütigen Redezeit alle Argumente des Abends emotional eingesammelt. Es wird wahrscheinlich einer der seltenen Momente in ihrem Leben als Politikerin sein, in dem sie einen vollen Saal so eindrücklich in ihren Bann geschlagen hat.
Argumente pro Koalition mit der CDU
Staatssekretär Michael Biel leitet für die SPD bei den Koalitionsverhandlungen mit der CDU die Facharbeitsgruppe Wirtschaft, Energie, Technologie und Betriebe. Er ist für ein Regieren mit der CDU. Seine Rede funktioniert nach dem Muster: Das könnt ihr euch nicht vorstellen. Er sagt, er habe in den Verhandlungen mit den Grünen bei vielen SPD-Themen ein “No Way” gehört. In seinem Startvortag zählt er auf: Gebührenfreiheit bei BVG und Schulessen hätten die Grünen als Gießkannenpolitik moniert. Das 9‑Euro- oder das 29-Euro-Ticket sei wegen des absehbaren 49-Euro-Tickets infrage gestellt worden. Die Integration der Töchter des Vivantes-Krankenhauses in das Mutter-Unternehmen sei abgelehnt worden. Beim Schulneubau seien finanzielle Abstriche gefordert worden. Keine Einigung sei beim Wohnungsbau möglich gewesen. Und mit Blick auf den Klimavolksentscheid sei es möglich gewesen, mit der CDU ein Sondervermögen zu verhandeln. “Konzentriert euch auf die Inhalte”, sagt er, die Koalition mit der CDU würde “so viel SPD wie möglich” bringen.
Argumente gegen eine Koalition mit den Konservativen
Franziska Drohsel vertritt in ihrer Startrede genau die entgegengesetzte Position. Sie braucht zwei Anläufe, ehe das Muster ihrer Rede klar ist: Schwer vorstellbar, dass Verhandlungen mit den Grünen einem Beißen auf Granit gleichen sollen. Über ihre Kontakte über Parteigrenzen hinweg und aus ihrer Zeitungslektüre könne sie Michael Biels Aussagen über ein “No Way” nicht nachvollziehen. Sie ist sicher, “das hätte man mit den Grünen verhandeln können”. Und: Die frühere Juso-Vorsitzende sagt mit Blick auf die Wahlergebnisse : “Wir wurden vom Wähler dafür abgestraft, wie wir mit unseren Partnern umgehen”. Ein Umgang, der von den Menschen nicht erst seit gestern beobachtet werde. Ihr Leitwort im Umgang mit politischen Partnern ist “respektvoll”. Und: “Wenn Rot-Rot-Grün so schlimm gewesen ist, dann hätten wir nicht so in den Wahlkampf gehen dürfen”. Zudem sei Berlin eine “Signalstadt” gewesen, dass ein Bündnis mit den Grünen und den Linken auch im Bund und in anderen Bundesländern eine Möglichkeit sein könne. Diese Option sei nun beschädigt.
Auch in den Einzelbeiträgen sprechen sich die meisten Redner gegen eine Koalition mit der CDU aus. Für sie sind SPD-Themen nicht “Spiegelstriche”, sondern finden ihren Ausdruck in einer Haltung. Neben der Distanz zu rassistischen Schlenkern bestehe diese aus einer progressiven Politik. Eine solche Politik zeige sich in der Bevorzugung der Gemeinschaftsschule vor dem Gymnasium, in einer Politik für Mieter statt für Besitzer von Eigentumswohnungen oder in Verkehrsfragen.
Annika Klose, Mitglied des Bundestages und im Ortsverband Brunnenviertel aktiv, weist auf den Bundesrat hin. Wenn der SPD-Landesverband im Rat der Bundesländer die CDU stärkt, schwäche das die Bundes-SPD.
Andere Argumente zielen auf die Strahlkraft von Franziska Giffey. So sagt ein Mitglied: “Wir dachten, wir mögen Franziska Giffey nicht, aber dafür der Wähler.” Das sei offenkundig ein Trugschluss gewesen und “nun werden wir in der GroKo Franziska Giffey nicht los”. Ein anderer Redner sprach vom weißen Elefanten – also einem Tabuthema, an das in einer Gruppe alle denken müssen, aber von niemandem angesprochen wird. Dieser weiße Elefant sei, “dass wir nicht in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen”, es fehle ein Rücktritt. Weiteres Argument: Bei einer Koalition mit der CDU sei die SPD-Mitte auf Bezirksebene “tot”, denn “wir kämpfen hier gegen überstarke Grüne”. Und ein vierter Redner sagt: “Nicht Rot-Rot-Grün wurde abgewählt, sondern die SPD wurde abgewählt.” Das verlange Selbstkritik.
Botschaft an den Küchentisch
Einen Beschluss oder eine Positionierung zur Koalitionsfrage fasst die Mitgliederversammlung nach etwas mehr als 90 Minuten nicht. Die Versammlung diente dazu, Argumente öffentlich zu machen. Dabei richteten sich die Redner nicht nur an die mehr als hundert Mitglieder, die im Saal saßen. Ohne Zweifel ging es auch darum, die vielen Mitglieder zu erreichen, die nicht gekommen waren. Denn immer wieder wurden einzelne Reden auf Handy gefilmt. Die Diskussion innerhalb der Abteilungen und nicht zuletzt auch unter denjenigen Mitgliedern, die nicht zu jedem Parteistammtisch kommen, sollte mit der Versammlung am 22. März noch einmal gefüttert werden.
Die SPD-Basis wird über den Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU in geheimer Wahl per Brief abstimmen. Bildlich gesprochen: Das Votum Pro und Contra einem Bündnis zwischen CDU und SPD entscheidet sich am privaten Küchentisch. Nun gilt es bis Ende April abzuwarten, welche Botschaften zwischen Honig und Aufstrich durchdringen werden.