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Eine Entdeckungsreise 1897–1932:
Leopoldplatz: Max Levy und seine vergessene Fabrik

Eine Spurensuche
17. April 2021
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Vor 120 Jah­ren war der Leo­pold­platz ein begrün­ter Schmuck­platz, denn rund um die Alte Naza­reth­kir­che gab es geschwun­ge­ne Wege und Orte zum Ver­wei­len. Ent­lang der Mül­lerstra­ße ent­stan­den impo­san­te Wohn- und Geschäfts­häu­ser. Auf den Bür­ger­stei­gen und Stra­ßen herrsch­te geschäf­ti­ges Trei­ben. In zwei­ter Rei­he zum Leo­pold­platz leg­te Max Levy mit inno­va­ti­ver Tech­nik und Erfin­der­geist den Grund­stein für sein Impe­ri­um. Wir gehen auf Spurensuche.

Bereich 48: Naza­reth­kir­che heu­ti­ger Leo­pold­platz (Hob­recht-Plan 1862, Ausschnitt)

1. Block mit Sondermaßen im Hobrecht-Plan von 1862

Die Adres­se Mül­lerstra­ße 30 liegt nur zwei Haus­num­mern nörd­lich vom heu­ti­gen Leo­pold­platz und gehört somit zum Block Naza­reth­kirch­stra­ße, Turi­ner Stra­ße, Utrech­ter Stra­ße. Im neu­en Gene­ral­plan von James Hob­recht für Ber­lin von 1862, wo teil­wei­se noch Gebäu­de mit­ten auf zukünf­ti­gen Stra­ßen ein­ge­zeich­net sind, wur­de das Are­al rund um die 1835 ein­ge­weih­te Alte Naza­reth­kir­che (Vor­stadt­kir­che) von Karl Fried­rich Schin­kel als zu bebau­en­de Flä­che mar­kiert. Erst öst­lich soll­te ein unbe­bau­ter Platz ent­ste­hen. Somit leg­te Hob­recht für die­ses Are­al eine außer­ge­wöhn­li­che Block­tie­fe fest, die ver­mut­lich auch auf den um 1860 ange­leg­ten Gar­ni­son-Begräb­nis­platz zwi­schen Turi­ner Stra­ße und Mül­lerstra­ße beruht.

Muel­ler­stras­se Ecke Naza­reth­kirch­stras­se, 1910er Jah­re – Mül­lerstra­ße 30: Gebäu­de mit dem gro­ßem Giebel

2.
Transformation zum großstädtischen Treiben

Um 1860 stan­den haupt­säch­lich ent­lang der Mül­lerstra­ße eini­ge weni­ge Häu­ser, wäh­rend die Turi­ner Stra­ße und Naza­reth­kirch­stra­ße voll­kom­men unbe­baut waren. Um 1910 hat­te sich das Bild gewan­delt, denn der Block war an der Utrech­ter Stra­ße, Mül­lerstra­ße und Turi­ner Stra­ße voll­stän­dig mit Vor­der- und Hin­ter­häu­sern bebaut. Eine Son­der­ge­stal­tung hat die Mül­lerstra­ße 30, denn das stra­ßen­sei­ti­ge Gebäu­de besitzt zur Mül­lerstra­ße die brei­tes­te Fas­sa­de, wäh­rend sich das Grund­stück fast bis zur Turi­ner Stra­ße erstreckt und unmit­tel­bar an das Fried­hofs­ge­län­de grenzt. Und auf dem Hof­ge­län­de soll­te die „Fabrik elek­tri­scher Appa­ra­te Dr. Max Levy“ ent­ste­hen. Wer war Max Levy?

Queck­sil­ber­strahl-Unter­bre­cher, Max Levy (1899)

3. Max Levy und der Wedding

Max Levy (*1869, +1932) stamm­te aus einer wohl­ha­ben­den jüdi­schen Fami­lie, hat ab 1888 in Hei­del­berg Phy­sik und Mathe­ma­tik, in Darm­stadt und Mün­chen Elek­tro­tech­nik stu­diert und pro­mo­vier­te 1892 in Gie­ßen. Die nächs­ten Jah­re waren vor allem für sei­ne beruf­li­che Lauf­bahn von Bedeu­tung, denn 1893 ging er zur AEG nach Ber­lin, wo Levy mit der Pla­nung von Groß­an­la­gen betraut wur­de. Bereits drei Jah­re spä­ter nahm er bei AEG die Posi­ti­on des Lei­ters der neu­ge­grün­de­ten Rönt­gen­ab­tei­lung ein.

Ein Jahr zuvor, 1895, hat­te Wil­helm Con­rad Rönt­gen eher zufäl­lig die „X‑Strahlen“ ent­deckt. Schnell wur­de der Ein­satz der spä­ter nach ihm benann­ten Rönt­gen­strah­len für viel­fäl­ti­ge Bereich deut­lich. Die AEG woll­te sich die Rech­te an der Ent­de­ckung von Rönt­gen sicher, der die­ses Ange­bot jedoch ablehn­te. Sei­ner­zeit ver­han­del­te Max Levy für die AEG mit Rönt­gen. Kur­ze Zeit spä­ter, im Jahr 1897, grün­de­te Levy das deutsch­land­weit ers­te Spe­zi­al­un­ter­neh­men für Rönt­gen­ge­rä­te: Ers­ter Fir­men­sitz war in der Chaus­see­stra­ße 2A und ab 190405 in Mül­lerstra­ße 30. Der Wed­ding war damals sowohl für Groß­kon­zer­ne wie die AEG als auch mit­tel­stän­di­sche Unter­neh­men wie die Hut­fa­brik Gat­tel und die Tre­sor­fa­brik Arn­heim ein attrak­ti­ver Standort.

Trans­por­ta­ble-Roent­gen-Ein­rich­tung, Max Levy (1899)

4.
Vom Röntgen-Geräte-Hersteller zum Alleskönner

Die Durch­leuch­tung des mensch­li­chen Kör­pers mit­tels Rönt­gen­strah­len war ein enor­mer Fort­schritt für die Wis­sen­schaft und zur Erken­nung von Krank­hei­ten. Somit lag der Fokus des Unter­neh­mens in den ers­ten Jah­ren auf der Ent­wick­lung sta­tio­nä­rer und mobi­ler Rönt­gen­ge­rä­te. Die neu­en Rönt­gen­ge­rä­te sei­ner Fir­ma stell­te Levy u.a. in dem Fach­ma­ga­zin „Jahr­buch für Pho­to­gra­phie und Repro­duk­ti­ons­tech­nik“ mit­samt tech­ni­scher Zeich­nun­gen und Pro­dukt­ab­bil­dun­gen vor.

Levy sah auch das Poten­zi­al in ande­ren tech­ni­schen Gerä­ten, wes­halb die Pro­dukt­pa­let­te sehr schnell erwei­tert wur­de. Bereits um 1900 wur­den ‘Wider­stän­de’, ‘Rönt­gen-Appa­ra­te’ und ‘Elek­tro­ni­sche Fächer- und Klein­ge­rä­te’ ange­bo­ten. Im Jahr 1909 erschien Levy in „Blom’s Engros‑, Export- und Han­dels-Adress­buch“ unter: Elek­tri­sche Appa­ra­te, Elek­tri­sche Maschi­nen, Moto­ren, Rönt­gen­ap­pa­ra­te, Ven­ti­la­to­ren und Wider­stän­de. Kurz­um, alles was einen Motor brauch­te, wur­de bei Levy in der Mül­lerstra­ße 30 her­ge­stellt. Der Ver­trieb erfolg­te über den eige­nen Ver­sand und sta­tio­nä­re Händ­ler. In Wien warb 1909 die Dr. Paul Holit­scher & Co mit Gerä­ten von Max Levy. Auch in Prag waren Levys Pro­duk­te bei Juli­us Boschan in der Niklass­stra­ße erhält­lich. Aus dem Spe­zi­al­un­ter­neh­men mach­te Levy in kur­zer Zeit eine eigen­stän­di­ge Mar­ke, die euro­pa­weit ihre Pro­duk­te und Erfin­dun­gen mit wie­der­erkenn­ba­rem Logo ver­mark­te­te. Heu­te sind die Ven­ti­la­to­ren im Indus­trie-Look belieb­te Samm­ler­stü­cke. Sie wur­den in gro­ßen Stück­zah­len her­ge­stellt und vertrieben.

Grund­stück Mül­lerstra­ße 30 (Kar­te: Strau­be 1910, Ausschnitt)

5.
Die versteckte Fabrik

Das Betriebs­ge­län­de der “Max Levy GmbH” war fast nicht direkt ein­seh­bar, denn nur an der Naza­reth­kirch­stra­ße gab es ein unbe­bau­tes Grund­stück neben der Haus­num­mer 50, was sich auch bis 1928 nicht ändern soll­te. In den ers­ten Jah­ren gab es zwei grö­ße­re Gebäu­de und ein klei­nes Haus für For­schung, Pro­dukt­ent­wick­lung, Fer­ti­gung und Versand.

Spä­ter wur­de eines der bei­den grö­ße­ren Gebäu­de abge­ris­sen. An sei­ner Stel­le ent­stand ein mehr­ge­schos­si­ges Gebäu­de über einem H‑förmigen Grund­riss. Die brei­te Pro­dukt­pa­let­te erfor­der­te mehr Platz. Am Ende der 1920er Jahr sol­len hier cir­ca 800 Men­schen beschäf­tigt gewe­sen sein. Sei­ner­zeit gehör­ten zum Unter­neh­men auch drei Toch­ter­ge­sell­schaf­ten mit 34 in- und 27 aus­län­di­schen Ver­tre­tun­gen. Nach vie­len Jah­ren mit immer neu­en Ideen, zahl­rei­chen Paten­ten sowie Zer­ti­fi­ka­ten war ein klei­nes Impe­ri­um ent­stan­den, dass vom Wed­ding aus sei­nen Sie­ges­zug gestar­tet hatte.

Schall­plat­ten­spie­ler der Fir­ma Dr. Max Levy, Ber­lin ca. 1925–1930; Jüdi­sches Muse­um Ber­lin, Inv. Nr. 2000÷557÷0, Foto: Jens Ziehe

Brü­cken­al­lee 33: Adres­se von Max Levy

6.
Jüdische Verflechtungen

Viel­leicht war es Zufall, aber Max Levy wohn­te mit sei­ner Ehe­frau Jose­phi­ne Levy-Rathen­au nach der Hoch­zeit im Jahr 1900 in der Brü­cken Allee 33. Das Wohn­haus im vor­neh­men Han­sa­vier­tel war 1891–1892 nach den Plä­nen des Archi­tek­ten der Hut­fa­brik Gat­tel, dem jüdi­schen Bau­meis­ter Georg Lewy, errich­tet wor­den. Durch­aus beein­dru­ckend waren die Woh­nun­gen, denn zum reprä­sen­ta­ti­ven Wohn­be­reich gehör­ten 5 Zim­mer, dann kamen 4 Schlaf­zim­mer und anschlie­ßend Küche, Kam­mern und Mäd­chen­zim­mer sowie Bade­zim­mer zum Licht­hof. Zu den tech­ni­schen Beson­der­hei­ten zähl­ten 1892 die Zen­tral­hei­zung und elek­tri­sche Beleuch­tung. Eben­falls womög­lich (k)ein Zufall war, dass Ella Gat­tel (*28.12.1883, Frei­tod +21.12.1942), eine der Töch­ter des jüdi­schen Hut­im­pe­ri­ums Gat­tel, in den Naza­reth­kirch­stra­ße 49 wohn­te – unmit­tel­bar neben der Fabrik vom Max Levy. Heu­te erin­nert ein Stol­per­stein an die Che­mie­la­bo­ran­tin, die sich vor der Depor­ta­ti­on das Leben nahm. Und im Vor­der­haus Mül­lerstra­ße 30 gab es um 1930 das jüdi­sche Geschäft der Gebrü­der Ben­del für “Beleuch­tungs­kör­per und Elek­tro­ni­sche Anlagen”.

Kar­te von 1940 mit Fabrik und Umgebung

7.
Auf dem Höhepunkt

Zum 25-jäh­ri­gen Fir­men­ju­bi­lä­um gab Max Levy ein klei­nes Buch zur Fir­men­ge­schich­te her­aus. Kurz zuvor, am 15. Novem­ber 1921, starb sei­ne ers­te Frau. Vier Jah­re spä­ter hei­ra­tet Max Levy sei­ne zwei­te Frau Cla­ra (Clai­re) Hagel­berg (*1894, +1988). Mit ihr bekam er zwei Kin­der: Gün­ter Ernst (*1926, +2019) und Ellen Lore. Sie gin­gen 1931 nach Ita­li­en, wo Max Levy am 4. April 1932 in Meran ver­starb. Anschlie­ßend zog sei­ne Frau mit den Kin­dern in die Schweiz und kam nach Deutsch­land zurück, um nach Bel­gi­en zu emigrieren. 

Literatur/Quellen:

Bun­des­ar­chiv, Gedenk­buch, Opfer der Ver­fol­gung der Juden unter der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­herr­schaft in Deutsch­land, 1933–1934.

Gla­ser, Otto: Rönt­gen­in­dus­trie und Patent­fra­gen, 1995.

Jae­ger Hans: Max Levy, Neue Deut­sche Bio­gra­phie, 1985.

Levy, Max: Div. Auf­sät­ze im Jahr­buch für Pho­to­gra­phie und Repro­duk­ti­ons­tech­nik, 1897–1901.

Nürn­ber­ger, Jür­gen und Mai­er, Die­ter G.: Jose­phi­ne Levy-Rathen­au (1877−1921), Ein Leben für die Berufs­be­ra­tung, HdBA-Bericht, Nr. 05, S. 73–95.

Sta­tis­ti­sches Jahr­buch der Stadt Ber­lin, Aus­ga­be 14.1938, IX. Han­del und Gewer­be, 109. Täti­ge Gesell­schaf­ten mbH mit Sitz in Ber­lin und einem Stamm­ka­pi­tal von min­des­tens 1 Mil­li­on Reichs­markt zu Ende 1936, S. 79f. 

Carsten Schmidt

Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern. Im Juni 2023 erschien sein neues Buch Bittersweet - Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871–1933 Zu finden ist er auch auf Twitter.

5 Comments Leave a Reply

  1. Hal­lo Jürgen,
    ich bin eine Enke­lin von Dr.Max Levy und möch­te ergän­zen, dass mei­ne Groß­mutter Cla­ra zusam­men mit ihren bei­de Kin­der Gün­ter ( mein Vater) und Ellen Lore kurz vor Kriegs­be­ginn Ber­lin ver­ließ, um über Bel­gi­en und Eng­land nach Bra­si­li­en zu emi­grie­ren. Erst Mit­te der 1960er Jah­re kehr­ten mei­ne Groß­mutter, mein Vater( mit Frau und 2 Kin­der) nach Euro­pa ‑bzw. nach Bel­gi­en- zurück. Ellen Lore Levy lebt noch in Brasilien.
    Vie­len Dank für die tol­le Arbeit rund um Wedding!
    Gruß aus Schleswig-Holstein
    Stel­la Levy

    • Hal­lo Stel­la, vie­len Dank für Dei­nen Kom­men­tar und die Ergän­zun­gen. Viel­leicht ergibt sich die Mög­lich­keit, dass man mit Ellen Levy in Kotakt kommt. Vie­le Grü­ße, Carsten

    • Hal­lo Jür­gen, vie­len Dank für Dei­ne inter­es­sier­te Nach­fra­ge. Der­zeit ent­steht das Buch über das jüdi­sche Leben im Wed­ding, 1871–1929 mit vie­len neu­en Infor­ma­tio­nen – auch zu die­sem Haus. Danach könn­te die Fort­set­zung des Arti­kels in Angriff genom­men wer­den. Vie­le Grü­ße, Carsten

  2. Ja, es war mal ein schö­ner begrün­ter Platz!
    Ich ken­ne ihn, bin 1951 in der Gro­ni gebo­ren und mei­ne gelieb­te Tan­te habe ich stän­dig dort besucht.
    Heu­te lädt er nicht mehr zu ver­wei­len ein, er ent­wi­ckelt sich zum Slum.
    Scha­de drum!

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