Heute schwer vorstellbar: In den 1980er Jahren war Berlin schon einmal Vorzeigestadt für Verkehrsberuhigung. Noch heute kann man das in Moabit zwischen Strom- und Beusselstraße erleben, wo flächendeckend die sogenannten Moabiter Kissen errichtet wurden, die aufgepflasterten Bremsschwellen, die man nur in Schrittgeschwindigkeit überfahren kann. Der zunehmende Verkehr stellt unsere Wohnkieze erneut vor Herausforderungen. Jetzt geht es nicht mehr nur darum, den Autoverkehr zu verlangsamen, sondern zu reduzieren. Da setzt die Kiezblocks-Bewegung an, die sich zum Ziel gesetzt hat, Durchgangsverkehr aus den Wohnvierteln herauszuhalten – auch im Wedding. Dahinter steht der Verein Changing Cities e.V., der aus dem Radentscheid hervorgegangen ist.
Hinfahren, aber nicht mehr durchfahren
Den Stau auf der Hauptstraße umfahren, Abkürzungen quer durchs Wohngebiet nehmen, dem Navi vertrauen, das die kürzeste Distanz berechnet – weil viele Autofahrende so denken, ist es mit der Ruhe in manchem Kiez schnell vorbei. Dazu kommt der Lieferverkehr, der durch den Online-Handel immer weiter zunimmt. Das kann man beklagen. Oder man nimmt sich die Verkehrsreduzierung Kiez für Kiez vor, nach dem Vorbild von Barcelona, wo bis zu neun Straßenblocks zu einer Einheit zusammengefasst wurden. Diese ist zwar noch mit dem Auto erreichbar, kann aber nicht mehr durchquert werden. Die Kiezblocks-Idee setzt da auch für Berlin an und will für 180 Kieze mehr Lebensqualität erreichen.
Autofahren wird komplizierter
Manchen Kiezbewohner:innen stellen sich dabei die Nackenhaare auf: Was ist mit Menschen, die ihr Auto wirklich benötigen, um zur Arbeit zu kommen? Kommen Müllabfuhr, Lieferfahrzeuge und Rettungsdienste noch überall hin? Und wenn himmlische Ruhe einkehrt, wird dann der Kiez nicht noch teurer als sowieso schon? Mit Hilfe eines Faktenchecks stellt die Kiezblock-Bewegung klar, dass weiterhin alle Straßen mit dem Auto erreichbar bleiben. Nur eben nicht mehr ohne Umwege über die Hauptstraßen, was es für den einen oder anderen unattraktiv macht, überhaupt das Auto zu benutzen. Wirklich unnötige, kurze Autofahrten können so im Interesse aller anderen vermieden werden. Ohnehin besitzt in Berlin nur eine Minderheit einen eigenen fahrbaren Untersatz. Für Radfahrer und Fußgänger ändert sich nichts – sie können ohne Umwege ans Ziel kommen.
Im Wedding sind bereits diverse Kiezblock-Initiativen aktiv, so im Sprengelkiez, im Brüsseler Kiez, im Badstraßenkiez und im westlichen Brunnenviertel. Für jeden untersuchten Bereich werden die Standorte für physische Barrieren ermittelt (sogenannte Modalfilter, die nur Fußgänger:innen und Radfahrende durchlassen). Einbahnstraßen, Sackgassen oder Parkverbote reduzieren ebenfalls die Möglichkeiten, mit dem Auto durchzufahren oder es überall einfach so abzustellen. Anwohner:innen, die sich einen Kiezblock wünschen, müssen nicht bei Null anfangen. Denn das Netzwerk von Changing Cities versorgt jede Initiative mit Best-Practice-Leitfäden, Material und Know-How, zum Beispiel wenn es um Unterschriftensammlungen oder die Durchführung von Veranstaltungen geht. Anhand eines Fortschrittsbalkens wird dargestellt, wie aus dem Plan Realität werden kann. Erst die Initiative, dann der Antrag, dann die Unterschriftensammlung und schließlich der Beschluss des Bezirksparlaments. In manchen Kiezen ist dieser Beschluss sogar schon unmittelbar vor der Abstimmung.
Wem das jetzt revolutionär vorkommt, kann sich gleich wieder entspannen. Denn im Wedding gibt es bereits einige Beispiele, wo das Konzept in der Vergangenheit schon umgesetzt wurde, ohne dass der Verkehr zusammengebrochen wäre. So kann man die Togostraße zwischen Kongo- und Transvaalstraße nicht mit dem Auto befahren. Auch enden manche Straßen als Sackgassen, z.B. die Bellermannstraße, das Nordufer oder die Triftstraße. Für manches Ziel muss man vorher wissen, über welche Hauptstraße man eine Nebenstraße erreichen kann. Das macht das Autofahren ohne Frage komplizierter.
Keine Ausreden mehr für Behörden
Weniger kompliziert ist dafür die Umsetzung eines Kiezblocks. “Das Einrichten von Modalfiltern und Einbahnstraßen verursacht nur geringe Kosten, ist aber extrem wirksam, um Durchgangsverkehr aus dem Kiez heraus und zurück auf die nächste Hauptstraße zu lenken”, erklärt Jakob Schwarz von Changing Cities. Gleichzeitig kommen diese Maßnahmen ohne aufwendige Tiefbaumaßnahmen aus und sie liegen allein in der Verantwortung des Bezirks. Potentiell langwierige Planungs‑, Ausschreibungs- und Vergabe-Prozesse, sowie Abstimmungen mit der Senatsverwaltung entfallen also. Kiezblocks können grundsätzlich schnell und unkompliziert umgesetzt werden – vorausgesetzt, es gibt den politischen Willen dazu. “Aus diesem Grund setzt Changing Cities auf das Instrument des Einwohner*innen-Antrags, denn je größer die Öffentlichkeit ist, die sich Kiezblocks wünscht und dafür unterschrieben hat, desto schwieriger lässt sich das Anliegen ignorieren”, so die Hoffnung von Jakob Schwarz.
Wer sich im Wedding gerne für einen Kiezblock einsetzen möchte, kann sich jederzeit an ihn wenden. Bestehende Initiativen, die sich ganz besonders über Unterstützung freuen, gibt es im Brüsseler Kiez, Sprengelkiez oder Brunnenviertel West.
Durchgangsverkehr aus Wohnvierteln herauszuhalten und auf Hauptstraßen zu drängen ist ein sehr vernünftiges Konzept. Kontraproduktiv ist aber, dass in Berlin parallel dazu gerade die Hauptstraßen durch Spurreduzierung und willkürliches Tempo 30 gezielt weniger leistungsfähig gemacht werden. Dadurch ergibt sich oft erst der Anreiz, Schleichwege zu suchen.
Ich glaube, dass Tempo 30 zunächst keinen Einfluss auf die Tragfähigkeit der Verkehrsmenge nimmt.
Gleichzeitig gebe ich zu, dass ich es gut finde, wenn Autofahrer durch den selbstverursachten Stau zum Nachdenken angeregt werden, damit sie verstehen, dass in einer Stadt der Größe Berlins nicht alle mit dem Auto durch die Innenstadt fahren können/müssen/sollen.