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Spaziergang mit einem Staatspräsidenten

3. Dezember 2020
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Es gibt Erleb­nis­se, die einen noch Jahr­zehn­te spä­ter bewe­gen und an die man sich bis ins Detail erin­nern kann. Mei­ne Gedan­ken gehen hier zurück ins Jahr 1979, genau­er zum 29. Okto­ber. Irgend­wie hat­te ich von Mit­schü­lern ver­nom­men, dass der dama­li­ge fran­zö­si­sche Staats­prä­si­dent Valé­ry Gis­card d’Estaing * nach Ber­lin kom­men wür­de. Als Ort einer geplan­ten Rede und der Abnah­me der Para­de der fran­zö­si­schen Ber­lin-Gar­ni­son war die Schul­stra­ße im Wed­ding (damals im fran­zö­si­schen Sek­tor der Vier­mäch­te­stadt Ber­lin, Anm.d.Red.) im Fern­se­hen ange­ge­ben wor­den. Genü­gend Anhalts­punk­te, um einen Aus­flug nach dem Wed­ding zu unter­neh­men. Ein wohl­mei­nen­der Onkel hat­te mir zur Kon­fir­ma­ti­on eine Kame­ra geschenkt, die hier natür­lich wie­der ein­mal zum Ein­satz kom­men soll­te. Und so setz­te ich mich in die U‑Bahn, fuhr von Kreuz­berg zum Wed­ding und hoff­te mit einem gewis­sen Ban­gen, mir irgend­wie zwi­schen den ange­nom­me­nen Absperr­git­tern und Sicher­heits­kräf­ten, dem unver­meid­li­chen Pres­se­auf­kom­men und Schau­lus­ti­gen einen Weg bah­nen zu können.

Im Wed­ding ange­kom­men, fand ich mich plötz­lich auf dem Mit­tel­strei­fen der Schul­stra­ße wie­der. Zu mei­ner Lin­ken stand eine lan­ge Kolon­ne Uni­mogs mit fran­zö­si­schem Kenn­zei­chen, davor jeweils eini­ge Sol­da­ten. Von hohen Absperr­git­tern, zahl­rei­chen Sicher­heits­kräf­ten oder alles blo­ckie­ren­den Schau­lus­ti­gen kei­ne Spur. Ein paar eher salopp auf dem Bür­ger­steig auf- und abge­hen­de Poli­zis­ten, eini­ge Schat­ten auf den umlie­gen­den Dächern – das war es, was an Sicher­heits­maß­nah­men erkenn­bar war. Ansons­ten stan­den züch­tig ein paar Pas­san­ten auf den Geh­we­gen, die sich das kom­men­de Ereig­nis nicht ent­ge­hen las­sen woll­ten. Es war kalt an jenem Tag, sehr kalt. Vie­le Jahr­zehn­te spä­ter erfuhr ich, dass dies auch den still­zu­ste­hen­den fran­zö­si­schen Sol­da­ten ein wenig zu schaf­fen gemacht haben soll – und dass der Prä­si­dent im Gegen­satz zu ande­ren Poli­ti­kern jener Zeit nur wenig Wert auf ein Über­maß an Sicher­heits­vor­keh­run­gen gelegt hatte.

Wäh­rend ich noch so dar­über nach­dach­te, was wohl als nächs­tes pas­sie­ren wür­de und ob ich über­haupt den rich­ti­gen Stand­ort gewählt hat­te, fuhr plötz­lich ein Citro­ën CX mit fran­zö­si­schem Stan­der am Kot­flü­gel bis auf weni­ge Meter von rechts an mich her­an und ein paar Begleit­fahr­zeu­ge der Pres­se näher­ten sich auf der ande­ren Fahr­bahn­sei­te. Von links fuh­ren zwei grö­ße­re offe­ne, oliv­grün lackier­te Fahr­zeu­ge auf mich zu, auf denen ste­hend der Prä­si­dent, sei­ne bei­den Adju­tan­ten und der dama­li­ge fran­zö­si­sche Stadt­kom­man­dant (Divi­sons­ge­ne­ral Ber­nard d‘Astorg) erkenn­bar waren. Unver­hofft befand ich mich im Zen­trum der Ereignisse.

Entourage um den Staatspräsidenten

Eini­ge Meter vor mir spran­gen die ste­hen­den Per­so­nen ein­schließ­lich des Prä­si­den­ten von ihren stop­pen­den Fahr­zeu­gen ab und gin­gen zu Fuß wei­ter in mei­ne Rich­tung – und ich schloss mich die­sem „Spa­zier­gang“ ger­ne an, um dabei das ein oder ande­re Foto machen zu kön­nen. Dann hat­te Gis­card d’Estaing den Citro­ën CX erreicht, ein Adju­tant hielt ihm direkt vor mir devot die Tür auf – ein­drück­li­che Momen­te eines Staats­be­suchs, wie sie mir in die­ser Nähe und Direkt­heit bis­lang nicht mehr ver­gönnt sein sollten.

Militärs helfen dem Staatspräsidenten in den Citroen

Der Besuch des fran­zö­si­schen Staats­prä­si­den­ten in Ber­lin wur­de all­ge­mein als bedeut­sam wahr­ge­nom­men. Es war der ers­te Besuch eines fran­zö­si­schen Staats­ober­haup­tes in Ber­lin seit Napo­le­on – und damit zugleich ein wich­ti­ges Bekennt­nis für die Sicher­heit West-Ber­lins. Und es war ein wei­te­rer Schritt zur Ver­tie­fung der damals ohne­hin guten deutsch-fran­zö­si­schen Bezie­hun­gen. Einer Freund­schaft, die in ihrer Tie­fe auf per­sön­li­cher Ebe­ne sicher auch der zwi­schen dem dama­li­gen Bun­des­kanz­ler Hel­mut Schmidt und Valery Gis­card d’Estaing zu ver­dan­ken war. Da die Visi­te des fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten dem­entspre­chend in ihrer Wich­tig­keit für den West­teil der Stadt kaum unter­schätzt wer­den konn­te, folg­te – wie üblich – den Ereig­nis­sen das ent­spre­chen­de Grol­len der Poli­tik jen­seits der Mau­er. Aber dar­an hat­te man sich in jenen Tagen längst gewöhnt. Dass die Uhr indes für die kaum mehr erhoff­te Wie­der­ver­ei­ni­gung längst zu ticken begon­nen hat­te, das ahn­te zu jener Zeit noch nie­mand. Es soll­te von jenem Tag an noch vol­le 10 Jah­re dau­ern, bis die Ereig­nis­se des Jah­res 1989 auch mich in ihren Bann zie­hen würden.

Text/Fotos: Lutz Röhrig

Seit Lan­gem enga­giert sich der Autor Lutz Röh­rig mit sei­ner Inter­net­sei­te www.zeit-fuer-berlin.de für all das, was es in unse­rer Stadt zu bewah­ren gilt: den klei­nen Laden in unse­rer Stra­ße, das Kino an der Ecke oder manch schein­bar schlich­tes Gebäu­de, das jedoch eine inter­es­san­te Geschich­te auf­zu­wei­sen hat. Ziel­set­zung ist es dabei, den Leser ihre Stadt näher zu brin­gen und so Schüt­zens­wer­tes bewah­ren zu hel­fen. Dabei wird auch das nicht über­se­hen, was es in unse­rer Stadt an Neu­em zu ent­de­cken gibt.

* Valé­rie Gis­card d’Es­taing ist im Alter von 94 Jah­ren am 2. Dezem­ber 2020 verstorben.

 

Gastautor

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  1. Groß­ar­ti­ge Zeit­do­ku­men­te! Mög­li­cher­wei­se kön­nen Sie über Wikipedia/Wikimedia Com­mons frei lizen­siert und zur Ver­fü­gung gestellt werden?

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