Es gibt Erlebnisse, die einen noch Jahrzehnte später bewegen und an die man sich bis ins Detail erinnern kann. Meine Gedanken gehen hier zurück ins Jahr 1979, genauer zum 29. Oktober. Irgendwie hatte ich von Mitschülern vernommen, dass der damalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing * nach Berlin kommen würde. Als Ort einer geplanten Rede und der Abnahme der Parade der französischen Berlin-Garnison war die Schulstraße im Wedding (damals im französischen Sektor der Viermächtestadt Berlin, Anm.d.Red.) im Fernsehen angegeben worden. Genügend Anhaltspunkte, um einen Ausflug nach dem Wedding zu unternehmen. Ein wohlmeinender Onkel hatte mir zur Konfirmation eine Kamera geschenkt, die hier natürlich wieder einmal zum Einsatz kommen sollte. Und so setzte ich mich in die U‑Bahn, fuhr von Kreuzberg zum Wedding und hoffte mit einem gewissen Bangen, mir irgendwie zwischen den angenommenen Absperrgittern und Sicherheitskräften, dem unvermeidlichen Presseaufkommen und Schaulustigen einen Weg bahnen zu können.
Im Wedding angekommen, fand ich mich plötzlich auf dem Mittelstreifen der Schulstraße wieder. Zu meiner Linken stand eine lange Kolonne Unimogs mit französischem Kennzeichen, davor jeweils einige Soldaten. Von hohen Absperrgittern, zahlreichen Sicherheitskräften oder alles blockierenden Schaulustigen keine Spur. Ein paar eher salopp auf dem Bürgersteig auf- und abgehende Polizisten, einige Schatten auf den umliegenden Dächern – das war es, was an Sicherheitsmaßnahmen erkennbar war. Ansonsten standen züchtig ein paar Passanten auf den Gehwegen, die sich das kommende Ereignis nicht entgehen lassen wollten. Es war kalt an jenem Tag, sehr kalt. Viele Jahrzehnte später erfuhr ich, dass dies auch den stillzustehenden französischen Soldaten ein wenig zu schaffen gemacht haben soll – und dass der Präsident im Gegensatz zu anderen Politikern jener Zeit nur wenig Wert auf ein Übermaß an Sicherheitsvorkehrungen gelegt hatte.
Während ich noch so darüber nachdachte, was wohl als nächstes passieren würde und ob ich überhaupt den richtigen Standort gewählt hatte, fuhr plötzlich ein Citroën CX mit französischem Stander am Kotflügel bis auf wenige Meter von rechts an mich heran und ein paar Begleitfahrzeuge der Presse näherten sich auf der anderen Fahrbahnseite. Von links fuhren zwei größere offene, olivgrün lackierte Fahrzeuge auf mich zu, auf denen stehend der Präsident, seine beiden Adjutanten und der damalige französische Stadtkommandant (Divisonsgeneral Bernard d‘Astorg) erkennbar waren. Unverhofft befand ich mich im Zentrum der Ereignisse.
Einige Meter vor mir sprangen die stehenden Personen einschließlich des Präsidenten von ihren stoppenden Fahrzeugen ab und gingen zu Fuß weiter in meine Richtung – und ich schloss mich diesem „Spaziergang“ gerne an, um dabei das ein oder andere Foto machen zu können. Dann hatte Giscard d’Estaing den Citroën CX erreicht, ein Adjutant hielt ihm direkt vor mir devot die Tür auf – eindrückliche Momente eines Staatsbesuchs, wie sie mir in dieser Nähe und Direktheit bislang nicht mehr vergönnt sein sollten.
Der Besuch des französischen Staatspräsidenten in Berlin wurde allgemein als bedeutsam wahrgenommen. Es war der erste Besuch eines französischen Staatsoberhauptes in Berlin seit Napoleon – und damit zugleich ein wichtiges Bekenntnis für die Sicherheit West-Berlins. Und es war ein weiterer Schritt zur Vertiefung der damals ohnehin guten deutsch-französischen Beziehungen. Einer Freundschaft, die in ihrer Tiefe auf persönlicher Ebene sicher auch der zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Valery Giscard d’Estaing zu verdanken war. Da die Visite des französischen Präsidenten dementsprechend in ihrer Wichtigkeit für den Westteil der Stadt kaum unterschätzt werden konnte, folgte – wie üblich – den Ereignissen das entsprechende Grollen der Politik jenseits der Mauer. Aber daran hatte man sich in jenen Tagen längst gewöhnt. Dass die Uhr indes für die kaum mehr erhoffte Wiedervereinigung längst zu ticken begonnen hatte, das ahnte zu jener Zeit noch niemand. Es sollte von jenem Tag an noch volle 10 Jahre dauern, bis die Ereignisse des Jahres 1989 auch mich in ihren Bann ziehen würden.
Text/Fotos: Lutz Röhrig
Seit Langem engagiert sich der Autor Lutz Röhrig mit seiner Internetseite www.zeit-fuer-berlin.de für all das, was es in unserer Stadt zu bewahren gilt: den kleinen Laden in unserer Straße, das Kino an der Ecke oder manch scheinbar schlichtes Gebäude, das jedoch eine interessante Geschichte aufzuweisen hat. Zielsetzung ist es dabei, den Leser ihre Stadt näher zu bringen und so Schützenswertes bewahren zu helfen. Dabei wird auch das nicht übersehen, was es in unserer Stadt an Neuem zu entdecken gibt.
* Valérie Giscard d’Estaing ist im Alter von 94 Jahren am 2. Dezember 2020 verstorben.
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