Der Wedding.
Was ist der Wedding eigentlich?
Wie sieht er aus? Wie fühlt er sich an? Wonach riecht der Wedding?
Der Wedding. Warum ist der Wedding männlich und nicht weiblich?
Warum fahren meine Freunde „in den Wedding“ um mich zu besuchen und nicht „nach Wedding“, so wie „nach Schöneberg“?
Ich bin zwischen Wilmersdorf und Schöneberg aufgewachsen, also sowohl eine Westberlinerin, als auch ein „Südkind”. Dort hat man nicht einmal schlecht über den Wedding geredet, er existierte schlicht und einfach nicht. Und das, obwohl an meiner Schule kein Einzugsbereich vorherrschte und die Schüler aus allen Ecken Berlins angereist kamen, da krochen Kinder aus Löchern, die waren noch viel nichts-sagender als der Wedding.
Welcher ist dein Kiez?
Einmal wurden wir in der Schule gefragt, ob und wie wir uns mit unserem Kiez identifizieren.
Ich glaube, ich war die Einzige, für die eine Identifizierung mit dem eigenen Kiez ausgeschlossen war. Ich bin kein Kiezmensch. Vermutlich, weil ich nie einen Kiez hatte. Sieben Jahre meines Lebens haben wir an der Kurfürstenstraße gewohnt, wem das etwas sagt, der wird verstehen, was ich meine. Wir sind viel umgezogen, haben Städte und Bezirke gewechselt.
Ich wollte immer einen Kiez. Vermutlich ist das der Dorfmensch in uns, der seine Nachbarn kennen, die Kassiererin beim nächsten Rewe mit immer demselben Smalltalk einhüllen und beim Späti-Mann um die Ecke einen gratis Lolli für sein Kind ergattern will.
Niemanden wird es überraschen, wenn ich sage: Wilmersdorf kennt keine Abenteuer. Das größte Wilmersdorfer Abenteuer ist wahrscheinlich das Weinfest am Rüdesheimer Platz, das zunächst gezwungenermaßen um 22 Uhr aufgelöst sein musste, weil den Anwohnern fünfzig weintrinkende Paare in ihren 70ern beim Skip-Bo spielen zu abenteuerlustig waren. Heute darf es gar nicht mehr stattfinden und zwar nicht erst seit Corona.
Die Farben des Wedding
Wedding.
Der Wedding ist orange.
„Orange? Wieso orange?“ fragen Sie sich jetzt sicherlich und runzeln die Stirn. Ich bin Synästhetikerin, Zahlen, Buchstaben und Wochentage sehe ich in Farben. Meist ohne Grund und sehr willkürlich, manchmal aber auch gesellschaftlich eingetrichtert (die Linie der U2 ist rot und so sehe ich sie auch).
Schöneberg ist blau. Hellblau.
Wilmersdorf ist dunkelblau, fast lila.
Je nach Ort kann die Farbe auch wechseln.
Der Bezirk Wedding ist zwar orange, aber die Seestraße ist gelb.
Insgesamt ist der Wedding sehr hell in meinem Kopf und Südberlin eher dunkel.
„Aha!” denken Sie jetzt vielleicht, „darum is’ die zu uns in den Wedding gezogen, weil’s hier schön hell is‘!“ Nein. Wie viel mein Farbensehen mit meinem Umzug zu tun hat, wird schwer herauszufinden sein, aber ich sage Ihnen eins: Gutbürgerlichkeit kann einen wutbürgerlich machen, in Wilmersdorf sind die Gutbürgerlichen die starke Mehrheit. Die Grenze zwischen Gut und Wut ist schmal und viele balancieren auf ihr herum, bis sie irgendwann auf eine der beiden Seiten fallen. Das kann dauern, es kann sich um Jahre handeln, aber früher oder später fallen sie und dann kann man nur beten, dass es die bekömmlichere, demokratische Seite ist.
Bei den letzten Bundestagswahlen hatte ich in meinem Wahlkreis in Wilmersdorf 44 AfD-Wähler und Wählerinnen, daran kann ich mich genau erinnern. Die CDU hat zuletzt unsere Erststimmen geholt, obwohl sich der SPD-Direktkandidat mit mühevoll dekorierten Flyern, die direkt an die Wilmersdorfer Jugend gerichtet waren („Ich möchte auch nicht, dass ihr euch euer Gras beim Dealer holen müsst […]“), selbst übertroffen hatte.
Klar ist, lieber Tim Renner (SPD-Kandidat), im Wedding hätten Sie sich das Plastik sparen können. Wenn man ehrlich ist, wären hier Ihre Flyer gemeinsam mit leeren Bierflaschen, Cola-Dosen, Zigarettenstummeln und Rest-Alu, die vom 2‑Euro-Döner am Nauener Platz übrig geblieben ist, im Plötzensee versunken.
Im Wedding gibt es keinen Filter
Sich eingestehen zu müssen, dass dieses Bild irgendwie auch seinen Charme hat, ist glaube ich das größte Eingeständnis, dass ich mir als immer treu gewesene Grunewald-Besucherin machen muss.
Im Wedding gibt es halt keinen Filter. Da ist noch alles echt. Da baut das Schraders keine Lichterketten auf, um Hipster zu sein, sondern überlässt die Hipsterität dem Göttlich an der Tegeler Straße oder wohlgemerkt quasi jedem Café, das nicht zu weit von der Amrumer Straße entfernt liegt.
Im Wedding geht man widerstrebend und sich vor grimmigen Blicken wappnend in eine Eckkneipe, um sich Paris SG vs. Leipzig anzuschauen, weil der eigene Fernseher mal wieder spinnt und findet im Publikum eine Mehrheit an fußballbegeisterten Frauen vor, die aus Solidarität die Seelen der verlierenden Leipziger in Form von Mexikanern runterspülen. Das hat was.
In Wilmersdorf hätte ich mich nicht in so einen Laden getraut, da wäre ich zu sehr aufgefallen.
Ich, mit meinem dunklen Touch, POC nennt man das auch. Ich nenne mich gerne POC, es ist besser als nicht weiß und nicht schwarz zu sein. Ich gehöre also irgendwo dazu, das ist schön. Aber den Nazis in der Steglitzer Eckkneipe wäre das glaube ich wurst. Na ja.
Ein neues Zuhause
Der Wedding ist sehr mit sich selbst beschäftigt. Er zersetzt sich in Teilen selbst, mit Plastikmüll und Rücksichtslosigkeit, in anderen Teilen kämpfen Bewohner gegen die steigenden Mieten, wovon Wedding stark betroffen ist und zwischendrin verspeisen drei geschniegelte Anzugträger in ihrer Mittagspause ein frisch zubereitetes Menemen bei der türkischen Frühstücksbäckerei an der Müllerstraße. Eingekreist von Eurogida 1, 2, 3 und 4 – Eurogida 5,6,7 und 8 sind auch nicht weit entfernt – schwer zu übersehen. „1A Preis-Leistungs-Verhältnis!“ sagt dann der eine Anzugsträger zum anderen und hält Gülcan, den er immer Gökan nennt, weil das ja eh alles irgendwie das gleiche ist, seinen Daumen hoch.
Im Wedding findet jeder seinen Platz.
Der Wedding hat beides, er hat die Ruhe und den Strom, das Gewusel.
Letztlich vereint er, was ich an Schöneberg und Wilmersdorf so liebe und die Prise Reinickendorfer Grobheit tut ihm auch irgendwie gut.
Der orangene Wedding ist für mich ein goldenes Herbstblatt, edel aber nicht vornehm. Er schmeckt nach herbem Bier, ist satt im Geschmack und riecht würzig, nach Kreuzkümmel und Koriander. Der Wedding ist geschlechtsneutral, weil ich „uff’m Wedding“ wohne.
Der Wedding ist mein neues Zuhause.
Und ich bin hier vor 62 Jahren geboren, im Virchow, hab auch mal woanders. Wilmersdorf gewohnt, nee zu Schick, zu sehr feine Leute–Sonntagsstaat , auch wens mit den Kiddys in den Park ging, nicht meins,im Wedding hab ich mich immer wohl gefühlt, auch jetzt noch, es gibt keine Barrieren, hier nicht, wohne jetzt am Gesundbrunnen, mein türkisher Gemüsehändler, it mit mir Alt geworden–Abla–oder so, nennt er mich ‚Schwester–ich rede mit den türkishen jugendlichen nach der Schule, wie der Tag so wahr, sie Rauchen heimlich, manchmal vor meinem Erdg. Fenster, nee hier bist Du nie einsam, die Älteren gehören dazu wie die jungen, unsere lange nicht mehr–Ausländischen Freunde, sind längst Familie, wir haben alle den gleichen unsichtbaren Stempel auf der Stirn, KIETZFAMILIE
Ich lebe seit 1969 im Wedding. Bin von der Prinzenallee über den Sprengelkiez ‚Samoastr.im Gerichtstr.kiez gelandet. Der Wedding ist meine Heimat und ich brauche keine Hipster und supercoolen Leute. Der Wedding ist vielfälltig und die Menschenmischung ist gut. Solange jeder nach seiner Fasson glücklich sein kann. Leider geht immer mehr Respekt untereinander verloren, aber das ist nicht nur im Wedding so, leider.
Wenn wir es schaffen die Strassen sauberer zu machen. Wird´s noch besser. Der Humboldhain, mein Park!
Auch als Seniorin fühle ich mich im Wedding nicht bedroht.