Als der Berliner Senat vor kurzem mit zahlreichen Ehrenamtlichen die Obdachlosen unserer Stadt zählen ließ, wurde dies nicht nur von Betroffenen und Verbänden durchmischt kommentiert, es fanden sich auch deutlich weniger Menschen an, als bisherige Schätzungen erwarteten. Dass die Zählung aber allenfalls eine rudimentäre Stichprobe gewesen sein kann, sollte auch allen klar gewesen sein. Was noch getan werden kann? Die Obdachlosen-Uni weiß Rat.
Genauso wie die Wege in die Obdachlosigkeit verschiedene sind und für viele auch keinen krassen Bruch, sondern eine langsame Verlagerung des Schlafplatzes vom Nachbarssofa zur Straße darstellen, sind auch die Symptome der Wohnungslosigkeit verschieden. So variieren das Bedürfnis von Austausch, Hygieneartikeln und Schutzbedürfnis je Sprache, Geschlecht und Alter.
Doch was hilft tatsächlich? Bringt der Notgroschen weiter? Oftmals sei es schon der freundliche Umgang, der durch den Tag hilft und aufbaut: Die Frage, was denn benötigt werde, und nicht die verstohlene Ignoranz. So erfahren wir es im Gespräch mit Dozenten der Obdachlosen-Uni, einem Projekt der Outreach gGmbH. Bei dem Projekt werden Obdachlosen und Interessierten niedrigschwellige Bildungs- und Freizeitangebote gemacht und die Chance zum Teilen eigener Kenntnisse angeboten.
Erste Schritte
Im Gespräch sei es möglich, mehr über den individuellen Lebensweg und dessen Umstände zu erfahren. Erkenne man, dass das wohnungslose Gegenüber aktiv von der Straße wolle, könne man hier einsteigen, zu unterstützen. Neben dem Teufelskreis-Klischee „Ohne Arbeit keine Wohnung, ohne Wohnung keine Arbeit“ gibt es nämlich in der Regel mehrere zu durchlaufene Stationen:
Meldeadresse
Während den Behörden in Großbritannien und Frankreich meist Mailadressen zur Kontaktaufnahme ausreichen, benötigen wir in Deutschland zunächst eine Meldeadresse. In Berlin können Obdachlose dazu Kontakt zur Levetzowstraße 12a aufnehmen, die ihnen gegen die Verpflichtung zur regelmäßigen Leerung ein Postfach zur Verfügung stellt. Auch das Zentrale Einwohnermeldeamt in Berlin-Mitte kann hier vermitteln.
Geburtsurkunde
Um wieder aktuelle Dokumente zu erhalten, braucht es die Geburtsurkunde, eine beglaubigte Kopie oder eine Person, die die „Existenz“ bestätigen kann. Hier ist meist eine Kontaktaufnahme zum Bürgeramt im Geburtsort oder zu früheren Lebensstationen notwendig. Das ist nicht immer einfach und wirbelt manchmal Erinnerungen auf.
Personalausweis und OFW-Status
Mit der Geburtsurkunde oder einem vergleichbaren Nachweis sowie einem aktuellen Passfoto ist es möglich im Bürgeramt ein (vorläufiger) Personalausweis zu beantragen. Dabei soll auch gleich der OFW-Status (OFW: ohne festen Wohnsitz) angemeldet werden, der ein Anrecht finanzielle Unterstützung gewährt.
Hartz IV
Als anerkannt wohnungslose Person ist es nun möglich, bei Jobcenter und Sozialamt Hartz IV zu beantragen. Hierzu braucht es einen „Kostenbewilligungsbescheid“, der Geld für Wohnung, Einrichtung, Kleinteile/Verbrauchsartikel sowie ggf. eine:n Fallmanager:in (psychologische/adminstrative Betreuung) ermöglicht. Ist es noch nicht erfolgt, sollte eine Kontoeröffnung folgen.
Vorläufige Unterkunft
Über das Sozialamt kann nun das Anrecht auf eine vorläufige Unterkunft geltend gemacht werden. Das kann einerseits betreutes Wohnen in einer Gemeinschaftsunterkunft oder Wohngemeinschaft, aber auch eine eigene Wohnung sein. Vorausgesetzt die eigene Verfassung und äußeren Umstände erlauben dies.
Auch der skandinavische Ansatz, suchtkranken Obdachlosen bereits vor der Entgiftung – hier oftmals die Grundvoraussetzung für alles Weitere – eine Wohnung zu vermitteln, dürfte in den nächsten Monaten und Jahren vermehrt diskutiert werden: Das Konzept der „nassen Häuser“, die auch Suchtkranken offenstehen, findet in Deutschland erst schrittweise Anwendung. Und mit längeren Wartezeiten muss man auf dem Berliner Wohnungsmarkt eh rechnen. Nicht immer seien soziale Träger praktisch am Gemeinwohl orientiert, sondern genauso auf Gewinn bedacht.
Wie geht es weiter?
Bei der Reise durch die Ämter ist es gut möglich, mit weiteren Varianten wie Wohnberechtigungsschein (WBS) und M‑Schein sowie den Regelungen in Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASoG) und Ansprüche gemäß Sozialgesetzbuch (SGB) konfrontiert zu sein. Auch die bezirks- und stadtspezifischen Zuständigkeiten können demotivieren. Auch nach Vermittlung einer Wohnung ist nicht gesagt, dass der Einstieg ins Berufsleben wieder ohne Weiteres gelingt. Die Erfahrungen wirken nach und der Zustand muss nicht immer stabil bleiben.
Dabei sollte man sich klar sein, worauf man sich einlässt. Eigene Zuverlässigkeit, Geduld oder genügend Zeit sind die Grundvoraussetzung, um eine tatsächliche Stütze zu sein. Wohnungslose befinden sich in einer konstanten Extremsituation, in der der labile Zustand von Dauer sein kann und sich ein anderes Verhältnis zu Organisation und Tagesabläufen verfestigt hat. Dabei kann der Weg in das geordnete Leben über Umwege verlaufen.
Projekte und Vereine wie die Obdachlosen-Uni und die Berliner Obdachlosenhilfe am Sparrplatz (Sprengelkiez), die Karuna Sozialgenossenschaft, die Bahnhofsmission und viele andere bauen schon jetzt auf das Engagement von Freiwilligen. Im Projekt „Warmgefahren“ werden Kleidung, Hygiene‑, und Medizin‑, und Schlafartikel an Obdachlose per Lastenrad verteilt, was einen direkteren und scheinbar vertrauten Kontakt ermöglicht.
Autor Paul Jerchel ist Sprecher des Rats für Zukunftsweisende Entwicklung (RZE), der studentischen Nachhaltigkeitsiniative für „Reflektion und Innovation in Forschung, Lehre und Gesellschaft“ und begleitete das Hochschulgespräch im April 2019.
Hier ein nützlicher Link zum Thema “Hartz IV bei Obdachlosigkeit”
Unsere Autorin Charleen war in der Nacht der Solidarität dabei. Lest hier ihren Kommentar.
Vielen Dank für die wertvollen Informationen. Ich habe heute jemanden kennengelernt, die ist obdachlos und ich würde ihr so gerne weiterhelfen.
Ps: ich möchte anonym bleiben 🙂