Im Wedding stand ab 1996 eine millionenschwere Investition, die modernste Feuerbestattungsanlage Europas. Sie bot unterirdisch Platz für 817 Särge. Nach nur fünf Jahren wurde sie geschlossen, die Geschichte des historisch bedeutsamen Krematoriums Wedding fand ein jähes Ende. 2013 begann ein neues Leben des Geländes als silent green Kulturquartier. Die historischen Anlagen wie die Kuppelhalle und die moderne Betonhalle unter der Erde wurden zu einem Kulturort erster Güte umgebaut. Heute ist das Gelände unter anderem Berlinale-Standort.
Plädoyer für die Feuerbestattung
Viele Zeitschichten liegen beim Krematorium übereinander. Am einfachsten lässt sich das in drei Ebenen erklären. Die erste Zeitschicht lässt sich in der Kaiserzeit verorten. Eine Bewegung aus Freidenkern, Medizinern und fortschrittliche Politikern setzte sich – vor allem aus hygienischen Gründen – für die Feuerbestattung ein, die noch bis 1911 in Deutschland verboten war. Das Krematorium Wedding wurde ab 1909 erbaut, in damals sehr modernen, wenig ornamentalen Formen und ohne jede christliche Symbolik. Dafür schmücken Adler als Torwächter den Eingang zum achteckigen Arkadenhof des Gebäudes, über dem Eingang zur Kuppelhalle ist eine mythologischer Frauenfigur zu sehen.
Auch im Innern der beeindruckenden achteckigen Halle finden sich Symbole auf dem Terrazzoboden – die Schlange als Symbol der Transformation, Dreiecke, die eine Flamme darstellen und auch bisher ungedeutete Muster. Die Halle selbst ist aufgrund ihrer Akustik gut für Kammer- und Klavierkonzerte geeignet, erklärt Jörg Heitmann, der das Gelände 2012 erworben hat und es sich nicht nehmen lässt, Besuchergruppen durch die Ebenen zu führen. In der beeindruckenden, feierlich wirkenden Halle mit ihren zwei Rängen finden 270 Besucher einen Sitzplatz. Anfangs war die Turmlaterne auf dem Dach auch der Rauchabzug für die Öfen, doch schon wenige Jahre später musste ein wesentlich höherer Schornstein mit einem Meter Durchmesser gebaut werden. Dieser blieb bis heute erhalten.
Eine hochmoderne Überschätzung
Früher wurden die Särge am Ende der Trauerfeier mit einem Fahrstuhl in den Keller befördert, wo sich die Brenner und Öfen befanden. Die zweite Zeitschicht, zugleich die kürzeste, umfasst die 1990er Jahre. Die historische Anlage wurde nämlich für viele Millionen DM zur modernsten Feuerbestattungsanlage Europas umgebaut – eine groteske Überschätzung des tatsächlichen Bedarfs. Auf der Fläche zwischen Gericht, Adolf– und Plantagenstraße schuf man unterirdisch Platz für mehr als 800 Särge in Hochregalen. An immerhin 11 Seziertischen wurden die Leichen gerichtsmedizinisch untersucht.
Ein Kulturort erster Güte
Und heute? Die Funktionsweise dieser “Sterbeindustrie” lässt sich, keine zwanzig Jahre nach der Schließung des Krematoriums im Jahr 2001, nur noch erahnen. Die neuen Besitzer verkauften die modernen Öfen. Die riesige Leichenhalle verwandelten sie aber in einen Veranstaltungsraum, die “Betonhalle”. 2019 wurde sie nach größeren Umbauten, bei denen eine ganze Säulenreihe entfernt wurde, eingeweiht. Bis zu 1.000 Menschen finden auf dieser unter dem Grundwasserspiegel liegenden Fläche Platz. Ein kleines Studiokino gehört auch dazu. Die Rampe, auf der früher die Leichen unter die Erde gefahren wurden, ist heute der nüchterne und zugleich beeindruckende Zugang zu dieser Unterwelt. Über der Rampe wurde ein moderner Flachbau mit Tagungsräumen errichtet, der das Gelände zur Adolfstraße hin abgrenzt.
Trotz dieser Vergangenheit geht vom ehemaligen Krematorium keine bedrückende Atmosphäre aus. Makaber ist an diesem Ort, an dem bis zu 1 Million Berlinerinnen und Berliner dem Feuer überantwortet wurden, heute nichts mehr. Vielmehr strahlen die oberirdischen alten und neuen Gebäudeteile eine zeitlose Würde und Pietät aus. Die Urnen sind auf das Nachbargrundstück umgezogen.
Und so ist mitten in der Stadt, neben dem erhalten gebliebenen Urnenfriedhof, mit dem silent green Kulturquartier ein grüner Ruhepol entstanden, an dem bis zu 80 Kreative der unterschiedlichsten Kunstrichtungen arbeiten. Das denkmalgeschützte Gelände wird u.a. von der Galerie Ebensperger und dem Musicboard Berlin-Brandenburg genutzt. Im Keller befindet sich das Lager des Arsenal mit über 100.000 Filmrollen. Das Gebäudeensemble wird wegen seiner ruhigen Campus-Atmosphäre auch für größere Tagungen, Firmenevents und die Zeit-Akademie genutzt. Hochrangige Festivals und Kulturveranstaltungen wie Konzerte, Ausstellungen und Filminstallationen finden im silent green-Kulturquartier einen adäquaten Platz mitten in Berlin.