Der Wedding benötigt dringend eine Überarbeitung seiner Geschichts- und Erinnerungslandschaft. Angesichts der bisher fehlenden kritischen Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte sollte eine solche Bearbeitung der Erinnerungskultur von einer unabhängigen Initiative getragen sein.
Nach einer langen Diskussion wurde im letzten Jahr im Afrikanischen Viertel eine Infostele zur Erinnerung an die koloniale Vergangenheit eingeweiht. Sicher ist eine Auseinandersetzung mit den dortigen Straßennamen und diesem Teil der deutschen Geschichte wichtig. Ein Blick auf andere Straßen und Plätzte lässt aber vermuten, dass es der Politik, den Verwaltungen und weiteren Beteiligten nicht um eine qualifizierte Bearbeitung historischer Orte im Wedding geht. Denn nur wenige Blöcke vom Afrikanischen Viertel entfernt wurde im selben Jahr ein weiteres Denkmal eingeweiht. Dabei handelt es sich um Sitzgelegenheiten in Form von Betonbuchstaben, die den mehrere hundert Meter langen Schriftzug “Leopoldplatz” ergeben. Bei der Planung und Errichtung eines der größten Denkmale im Wedding hat sich niemand ernsthaft damit befasst, an wen hier eigentlich erinnert werden soll. Denn Leopold von Sachsen-Anhalt war der bedeutendste Militarist preußisch-deutscher Geschichte. Dass die Straßen um den Platz an die Schlachten des Spanischen Erbfolgekrieges mit seinen 1,2 Millionen Toten erinnern, war in den Jahren der Empörung über die afrikanischen Straßennamen kein Thema.
Beiräte, Fördergeldnehmer, regionale Museen, Einrichtungen von Jugend, Schule und demokratischer Bildung haben trotz ihres Auftrages anscheinend kein wirkliches Interesse an einer breiten öffentlichen Beschäftigung mit allen Aspekten der regionalen Geschichte. Das zeigt sich in diesem Jahr besonders, in dem an die Zerstörung der Vielfalt in Deutschland durch die Nationalsozialisten erinnert werden soll. Kaum eine so geförderte Initiative aus dem Wedding beteiligt sich am berlinweiten Jahresprogramm der „Zerstörten Vielfalt“.
Auch das Größe nun wirklich nicht zu übersehende Beispiel jüdischen Lebens und der Vertreibung der Juden, die Gartenstadt Atlantic in Gesundbrunnen, findet in diesem Jahr kaum öffentliche Beachtung. Dabei endete das Unrecht, das der Familie Wolffsohn in der NS-Zeit angetan wurde, nicht 1945, sondern reicht bis in die heutige Zeit. Der Visionär Karl Wolffsohn lies in den 1920er Jahren am Bahnhof Gesundbrunnen nicht nur eine Gartenstadt errichten, sondern auch gleich eines der interessantesten Filmtheater von Berlin, die “Lichtburg“. Vor seiner Vertreibung durch die Nationalsozialisten wandelte er seinen Besitz in eine Aktiengesellschaft um. Die Anteile verteile er unter Freunden. Sein Plan war es, dass er seine Gartenstadt nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft von diesen Freunden wieder zurückbekommt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Familie Wolffsohn erst nach einer unschönen 12 jährigen juristischen Auseinandersetzung ihr Eigentum zurück. Bis auf das Gelände des ehemaligen Kinos, das weiter unrechtmäßig im Besitz des Landes Berlin blieb. Nach dem Abriss der legendären Lichtburg wurden dort vom West-Berliner Senat Sozialwohnungen errichtet.
Die Abwesenheit einer kritischen Bearbeitung der Geschichte wiegt im Wedding besonders schwer, da hier immer wieder auf die regionalen Ereignisse wie den „Roten Wedding“ Bezug genommen wird. Bevor demnächst in weitere Förder- und Vergabeverfahren Geld in Gedenk- oder Geschichtsprojekte gesteckt wird, ist es sinnvoll, sich zunächst einen Überblick über Denkmale und historische Orte im Wedding zu verschaffen. Die oben genannten Beispiele lassen vermuten, dass ein solcher Auftrag von den bisherigen bezirklichen Kultur‑, Museums- oder Bildungseinrichtungen sowie anderen Parteistiftungen oder sonstigen bisherigen Fördergeldnehmern sicher nur unzureichend ausgeführt wird.
Von daher sollte eine Bestandsaufnahme der Weddinger Geschichtslandschaft sowie das Entwickeln von Perspektiven einer unabhängigen Initiative übertragen werden, die allerdings auch vor Ort verankert sein müsste.
Autor: Eberhard Elfert
[…] können, so Elfert. “Das ist typisch für die Erinnerungskultur, die einer dringenden Neuordnung bedarf”, findet er. Angesichts der Straßennamen um den Platz, die unhinterfragt an die […]