Nach „Sparen bis es quietscht“ lautet das aktuelle Motto in Berlin: die „Stadt wächst“. Und das bedeutet, es wird investiert. Doch bevor losgebaut oder wenigstens geplant wird, wird zunächst erst einmal “empfohlen”. Im SIKo, dem Sozialen Infrastrukturkonzept des Bezirks, ist nachzulesen, wo neue Schulen entstehen könnten. Wo Kindergärten erweitert werden sollten. Auch wo Sportplätze und Turnhallen fehlen oder wo neue Grünflächen geschaffen werden müssten. Das alles listet das SIKo auf beinahe 300 Seiten auf. Auf den ersten Blick liest sich das Wunschkonzert toll. Doch auch auf den zweiten? – Ganz am Ende des Artikels folgt der Kommentar.
Keine neuen eigenen Daten
Leider enthält enthält das SIKo nicht viel neues Zahlenmaterial. Im Grunde trägt es bloß bereits vorhandene Fachpläne zusammen. So zum Beispiel den Entwicklungsplan Kindertagesstätten, die Schulentwicklungsplanung oder den Fachplan Grün. Das sei„ämterübergreifend“ heißt es stolz in dem Papier. Man könnte aber auch sagen: Hier wird doppelt gearbeitet. „Innerhalb des Bezirks sollen mit dem SIKo Effektivität, Synergien und Nachhaltigkeit bei der Flächensicherung und der Haushaltsplanung gewährleistet werden“, ist zu lesen. Das klingt gut. Und es ist ja auch ein Service, alle Daten in einem PDF zu haben statt in mehreren. Nachteil ist allerdings, dass auch beim bloßen Zusammentragen Zeit vergeht und somit die Zahlen nicht mehr so frisch sind.
Hätten die Autoren der Studie, das Architekturbüro Jahn, Mack und Partner, eigene Zahlen erstellt, dann hätte ihre Studie in den Blick nehmen können, dass es nebem dem Bezirksamt auch noch andere Handelnde gibt. Wieviel neue Schulplätze könnte etwa eine freie Schule wie zum Beispiel die Quinoa-Schule schaffen – (die gewiss nicht als privat bezeichnet werden sollte)? Oder in welchem Umfang mögen wohl die nicht-staatlichen Kitaträger mit Neubau tätig werden? Und wieviel mehr und wieviel schneller ließe sich etwas erreichen, wenn der Bezirk solche Tätigkeiten förderte?
Der Bedarf
Alle Empfehlungen des SIKo gründen sich auf den so genannten Bedarf. Der Begriff ist eine Umschreibung für Mangel. Zunächst listet das SIKo auf, wie gut oder schlecht welcher Stadtteilen mit Schulen, Kitas, Jugendfreizeiteinrichtungen und Grünflächen versorgt ist. Was einfach zu erfassen scheint, damit tut sich das SIKo jedoch schwer. So steht im Kapitel Kitas auf Seite 35 allen Ernstes, dass im Wedding von den 7.823 vorhandenen Kitaplätzen lediglich 7.094 belegt sind. Im weiteren Verlauf widerspricht das SIKo zwar der logischen Folgerungen aus diesen Zahlen, dass es genügend Kitaplätze gäbe. Doch warum findet sich diese groteske Berechnung überhaupt in dem Papier?
Die Prognose
Entscheidend am SIKo ist der Blick in die Zukunft. Das ist sein hauptsächlicher Zweck. Anhand einer Prognose soll vorhergesagt werden, wie groß der Bedarf künftig ist. Denn so soll begründet werden, schon heute tätig zu werden. Immerhin färben sich dank der Vorhersage die Kieze rot. Die rote Farbe drückt aus: es besteht ein dringender Bedarf bei Kitas, Grundschulen und Oberschulen. Ganz amtlich.
Grünflächen
Neubau, Neubau, Neubau empfiehlt das SIKo. Und die Grünflächen? Sind sie die Opfer der Verdichtung? Es findet sich bei nicht wenigen Neubauvorschlägen die Bemerkung: „Konflikt: als öffentliche Grünfläche festgesetzt“. Zum Ausgleich soll in vergessene Grünflächen investiert werden. Aus Brachen am Nordhafen oder entlang der Panke werden dann offizielle Grünflächen. Kein echter Zugewinn. Ein wirklich neues Grün ist immerhin die vorgeschlagene Erweiterung des Sprengelparks bis zum Pekinger Platz.
Sport
Seit Jahren ist bekannt, dass es in den Ortsteilen Wedding und Gesundbrunnenzu wenig Turnhallen und Sportplätze gibt. Das SIKo bestätigt hier Bekanntes. Doch bei den Empfehlungen finden sich die Kreuze leider nicht in der Spalte Neubau, sondern in der Spalte Sanierung vorhandener Anlagen. Und in den wenigen Fällen, wo an zusätzliche Hallen gedacht wird, ist das Zeitfenster „fernerliefen“ („2030 ff“) angekreuzt.
Steckbriefe nennen Schwerpunkte
Teil des SIKo sind auch 22 Steckbriefe. Diese stellen in der langen Liste der möglichen Erweiterungen und Neubauten die „Schwerpunktflächen“ vor. Für den Wedding werden gleich 13 solcher Schwerpunkte mit „Handlungsempfehlungen“ genauer vorsgestellt. Wenn allein diese Vorhaben realisiert werden würden, dann erlebt der Wedding beim Schulneubau einen wahren Boom. Sogar die Betriebsfeuerwehr der Bayer AG in der Sellerstraße soll zur Schule werden. Was von diesen 13 hervorgehobenen Empfehlungen umgesetzt wird, bleibt natürlich abzuwarten. Bis 2030.
Kommentar: Das SIKo ist ein echtes Stück Sozialismus
Im Sozialismus herrschte Mangelwirtschaft. Und das nicht etwa, weil es immer an allem mangelte, sondern weil am Anfang aller staatlicher Überlegungen stand: An welchen schönen Dinge mangelt es dem Volke denn so? Meistens lag der Staat mit seiner Antwort daneben. Heute existiert Marktwirtschaft. Die geht so: Kaum zeigt sich, dass irgendwo etwas fehlt, schon findet sich jemand, der ein Angebot macht. Und das trifft erstaunlich oft – wenn auch nicht immer – ins Zentrum der Wünsche.
Wer nun denkt, der Sozialismus ist vorbei, der kennt die Arbeitsweise des Bezirksamtes nicht. Auch dort steht am Anfang aller Überlegungen: Welchen Wunsch könnten wir heute den Leuten bloß erfüllen? Im Grunde nett gedacht. Das Problem ist nur: Wenn die „Bedarfsanalysen“ (zudem gefüllt mit alten Zahlen) endlich vorliegen und dann auch noch beschlossen werden und anschließend die Planungen beginnen und am Ende sogar Geld fließt, dann ist aus einem Problem im Jahr 2010 die Fehlinvestition im Jahr 2030 geworden. Zwischenzeitlich haben Generationen von Schülern in viel zu kleinen Gebäuden gelernt und waren Kitaplätze zu knapp.
Text: Andrei Schnell, Fotos: Andrei Schnell, Hensel, Weddingweiser
Das beschriebene Prinzip ist zwar richtig beschrieben, aber den Vergleich mit dem Sozialismus hätte es nicht gebraucht. Zum einen verwechselt der Autor hier die Staatsform Sozialismus mit der Wirtschaftsordnung Planwirtschaft. Zumindest theoretisch Sozialismus nämlich auch ohne Planwirtschaft denkbar… Zum anderen ist das Hohelied auf den Kapitalismus doppelt unangebracht: Zwar stimmt es, dass Bedürfnisse in der Marktwirtschaft bedient werden – aber eben nur, solange es damit Geld zu verdienen gibt. Doch in einer Gesellschaft gibt es auch immer unkommerzielle Bedürfnisse, die dann ehrenamtlich bedient werden müssen. Außerdem schafft der Kapitalismus den Bedarf meist erst, um ihn dann zu befriedigen. Von der Ressourcen-Fehlallokation und den Fehlanreizen, die der Kapitalismus mit sich bringt, mal ganz zu schweigen. Ich möchte übrigens in keiner Gesellschaft leben, in der Grundbedürfnisse wie Bildung oder Freizeiterholung nur von der freien Wirtschaft bereitgestellt werden…
Es müsste eben eine Gesellschaft sein, in der nicht bloß stets geplant wird. Es müsste möglich sein, dass ein Amt aktiv werden darf. Es ist noch nicht so lange her, da wurden Schulen geschlossen, weil angeblich zu wenig Schüler vorhanden waren. Nur wenige Jahre später müssen neue Schulen gebaut werden, weil wieder mehr Schüler da sind. Ist da nicht das stetige Planen eher das Problem als die Lösung?
Vielen Dank! Genau das gleiche ging mir beim Lesen auch durch den Kopf!