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Inmitten der verstrahlten Bohemiens vom Leopoldplatz

2. Dezember 2016
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Statue "Betender Junge" und das Kaufhaus

Poet, Slamer, Dich­ter und Gast­au­tor beim Wed­ding­wei­ser Clint Lukas fühlt sich wohl am Leopoldplatz:

“Als ich frü­her im Brun­nen­vier­tel gewohnt habe, bin ich immer nur wegen des Bür­ger­amts zum Leo­pold­platz gefah­ren. Ich weiß noch, wie ich aus der U‑Bahn kam und sie da ste­hen sah, zwi­schen BURGER KING und der Hal­te­stel­le des 120er Bus­ses: Arbei­ter ohne Arbeit, Sprit­tis, Jun­kies, alle kei­ne Kin­der von Trau­rig­keit. Und ich dach­te jedes Mal, Herr­gott­sa­kra, hier muss ich wirk­lich nicht woh­nen. Inzwi­schen woh­ne ich hier und bin täg­lich am Leo.

Ich weiß, dass die Gegend genau­so nor­mal wie jede ande­re ist. Doch die­se eine Ecke hat ihre Fas­zi­na­ti­on für mich nicht ver­lo­ren. Das Stra­ßen­pflas­ter bedeckt von Kron­kor­ken und den Sea­so­ning-Päck­chen der Yum­Y­um-Sup­pen, die von den Kids tro­cken gesnackt wer­den. Über­all Autos in zwei­ter Rei­he geparkt, obwohl der Lie­fe­ran­ten- und Bus­ver­kehr nicht zu ver­ach­ten ist. Und in der all­ge­mei­nen Hek­tik dann die­ses Stil­le­ben ver­strahl­ter Bohemiens.

leo-luxemburger-mu%cc%88llerstrWenn ich mit­tags mit mei­ner Toch­ter ein­kau­fen gehe, ist immer schon high-life ange­sagt. Ein paar Jungs kau­ern in Rus­sen­ho­cke vor der schwe­ren Stahl­ja­lou­sie, die den Ein­gang zum Lager des Obst­stan­des ver­schließt (eigent­lich nicht mehr kom­plett: Die unte­re Hälf­te ist vom vie­len Urin durch­ge­ros­tet, der hier ritu­ell ver­gos­sen wird). Ein kon­stan­ter Kun­den­strom för­dert Bier und Tüten­wein aus dem unter­ir­di­schen NETTO zuta­ge. Auf der Trep­pe zur U‑Bahn und vor der The­ke des Han­dy­dok­tors wird bereits laut­stark debattiert.

Noch nie habe ich auf einem Fleck so vie­le gebro­che­ne Nasen, Veil­chen und Platz­wun­den gese­hen. Oft krie­gen sich ein paar der Jungs genau dann in die Haa­re, wenn ich mit dem Kin­der­wa­gen durch ihre Rei­he fah­re. Aber das Erstaun­li­che ist: Noch nie wur­de ich ange­rem­pelt. Ich hab nicht mal gese­hen, dass einem Pas­san­ten ver­se­hent­lich der Weg ver­sperrt wur­de. Und wir reden hier von einem Are­al, das unge­fähr zehn mal zehn Meter misst. Auf dem sich an die sieb­zig Suf­fis rumtreiben.

Am meis­ten mag ich, wenn es hier Bezie­hungs­stress gibt. Wenn zwei Lie­ben­de im Clinch mit sich und ihren Pro­mil­len lie­gen und umringt wer­den von gut­mü­ti­gen, doch unzu­rech­nungs­fä­hi­gen Schlich­tern. Dann flie­ßen auch schon mal Trä­nen, hin und wie­der gibt’s eine drol­li­ge Ohr­fei­ge. Aber nie muss man als Unbe­tei­lig­ter alar­miert sein. Es ist, als wür­de ihr Gela­ge in einem Par­al­lel­uni­ver­sum statt­fin­den. Sicht­bar für unbe­schol­te­ne Bür­ger wie mich (die erst um 14 Uhr anfan­gen zu trin­ken), aber in eine ande­re, unbe­rühr­ba­re Sphä­re entrückt.

Alkohol LeopoldplatzIch frag mich dann manch­mal: War­um ste­hen die genau hier? Dau­ernd müs­sen sie zur Sei­te tre­ten für die Fla­neu­re, die sich bei Wool­worth und Kar­stadt mit anmu­ti­gen Din­gen aus­stat­ten. War­um hän­gen sie nicht vorm Rat­haus rum oder im Unter­stand bei der Naza­reth-Kir­che? Mich wür­de das ner­ven. Wenn ich mir gepflegt einen rein­lö­ten will und dau­ernd dem Men­schen­ma­te­ri­al aus­wei­chen muss, das aus dem ÖPNV quillt.

Aber das Schö­ne an Ecken wie die­sen, über­haupt an die­sem fabel­haf­ten Bezirk, ist, dass man die Din­ge nicht hin­ter­fra­gen muss. Der Gen­tle­man genießt und schweigt. Und so wer­de ich wei­ter mei­ne zwei­jäh­ri­ge Toch­ter im Kin­der­wa­gen durch die­se Men­ge schie­ben. Die den Anschein hat, völ­lig ent­fes­selt zu sein. Und in deren Mit­te ich mich doch so sicher füh­len kann, wie in Abra­ham Lin­colns Schoß. Oder so ähnlich.”

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Neu­es­te Tex­te von Clint Lukas auch auf sei­nem Blog mit der Unter­zei­le “Für die Lie­be, für die Kunst”.
Sein 2016 erschie­ne­nes Buch “Nie wie­der Frie­den” rühmt der Wed­ding­wei­ser im Bei­trag “Clint Lukas ist der letz­te der Cow­boys”.

Autor: Clint Lukas, Fotos: weddingweiser

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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