Der Wedding ist traditionell ein Anlaufpunkt für Menschen aus vielen Ländern. Nicht erst seit die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge stark ansteigt, sind die Bewohner von Wedding und Gesundbrunnen daran gewöhnt, mit Neuankömmlingen umzugehen und ihnen den Start so leicht wie möglich zu machen. Mit unserer neuen Serie wollen wir uns dem Thema “Ankommen im Wedding” aus unterschiedlichen Perspektiven annähern.
Der Bürgerkrieg in Syrien ist bei uns angekommen. Er ist ganz nah. Wir treffen uns mit Reham. Vor einem Jahr ist sie nach Berlin gekommen, inzwischen lebt sie in einer eigenen Wohnung im Wedding. „Fremd fühle ich mich hier nicht“, sagt die 31-Jährige, „ich versuche hier, ein Leben wie in meiner Heimatstadt Aleppo zu führen.“ Die junge Syrerin besucht Sprachkurse, lernt deutsche Freunde kennen und jobbt im Eiscafé Kibo an der Transvaalstraße. Ihre Eltern und zwei Brüder wohnen inzwischen ebenfalls in Berlin. Also ein ganz normales Leben, wie früher, im Frieden? „Einer meiner Brüder kommt mit seiner Familie nicht aus Aleppo heraus. Ich wünsche mir sehr, dass wir bald alle in Deutschland zusammen sein können“, erklärt Reham. Es klingt in einem Gespräch in einer Berliner Bar wie beiläufig gesagt. Und doch spürt man, dass für sie die Vorstellung, ihr Bruder könnte mit Frau und Kindern in einem Boot über das Mittelmeer fliehen, unerträglich ist. Sie weiß, dass diesem Wunsch ein steiniger und gefährlicher Weg vorausgehen würde.
Im Hier und Jetzt haben solche Gedanken wenig Raum. Reham schaut auf den nächsten Moment, sie mag die Chancen, die ihr Deutschland bietet, bestmöglich nutzen. Kann sie sich vorstellen, wieder in einem kreativen Beruf, als Grafikdesignerin, in verantwortungsvoller Position zu arbeiten, wie vor der zwei lange Jahre andauernden Flucht über den Libanon nach Berlin? Das hält Reham angesichts ihrer Mühen mit der deutschen Sprache noch für unwahrscheinlich. Trotzdem: „Auch wenn ich in meinem Alter keine Ausbildungsförderung bekommen kann, möchte ich etwas vollständig Neues tun und an der FU Kommunikationswissenschaften studieren“, sagt sie entschlossen. Reham glaubt nicht, in ihre völlig zerstörte Heimatstadt zurückkehren zu können und will daher keine Zeit verlieren bei ihrem beruflichen Neuanfang.
Flüchtlinge helfen sich gegenseitig
Es leichter zu haben, schnell Anschluss zu finden und in der neuen Umgebung weniger fremd zu sein – das wünschen sich viele Flüchtlinge, wenn sie endlich irgendwo bleiben können. Reham hat es geholfen, dass sie vor der Flucht schon zwei Mal nach Deutschland gereist war, wo ihr Bruder schon seit vielen Jahren lebt. Aber nicht viele Flüchtlinge können am Ankunftsort auf ein eigenes Netzwerk zurückgreifen. Schnelle Hilfe vom aufnehmenden Staat und seinen hoffentlich gastfreundlichen Bewohnern ist wichtig, aber die Vernetzung der Flüchtlinge untereinander kann ebenso effektiv sein.
Der 26-jährige Programmierer Mojahed Akil, ein Freund Rehams aus Aleppo, macht sich die Tatsache zunutze, dass viele Flüchtlinge ein Smartphone besitzen, weil sie nur so Kontakt zu ihren weit verstreuten Freunden und Familienangehörigen halten können. Er hat eine Website, eine Facebookseite und eine Smartphone-App entwickelt. All diese technischen Hilfsmittel sollen den Hunderttausenden Syrern helfen, die in der Türkei gestrandet sind. Mittlerweile arbeitet ein Team von fünf Leuten für das “gherbtna”-Projekt. Eine erste Starthilfe im fremden Land, die die wichtigsten Infos zu Jobs, Wohnungssuche und Behörden bereithält, ergänzt durch Nachrichten und ein Forum für privaten Austausch. Das Logo von “gherbtna“ gleicht einem Zahnrad, gebildet aus stilisierten Figuren. Die Botschaft ist klar: alle halten zusammen.
Infos für Flüchtlinge zusammentragen
Rehams Bekannter Mojahed möchte das in der Türkei erprobte Konzept jetzt auch auf Deutschland übertragen. „Wir benötigen dafür Menschen vor Ort, die sich in Deutschland gut auskennen und die Informationen passgenau zusammentragen“, sagt er bei einem Telefoninterview, das wir mit Rehams Hilfe von Berlin aus führen. „In der Türkei habe ich alles selbst vorfinanziert“, beschreibt der Programmierer die Geschichte seines Projektes. Doch inzwischen gebe es viele Sponsoren aus der Wirtschaft – er schätzt, dass bereits 10.000 Unternehmen in der Türkei von Syrern gegründet wurden. Falls jemand Interesse hat, dieses für syrische Flüchtlinge äußerst hilfreiche Projekt auch in Deutschland mit aufzubauen: gebraucht werden Freiwillige, die Informationen recherchieren und aktuell halten.
Arabische Sprachkenntnisse sind zwar keine Voraussetzung, erleichtern aber die Kommunikation mit Mojahed in der Türkei. Für alle Interessenten, die dem Projekt helfen möchten, ist Reham erste Ansprechpartnerin. „Die App kann zwar die Freunde und die Familie in der Fremde nicht ersetzen“, sagt sie, „aber mir hätte sie am Anfang bestimmt auch sehr geholfen.“
Wer Interesse hat, mitzuarbeiten oder eine Organisation kennt, die helfen kann, meldet sich bitte per Mail an [email protected]
Beitrag in Euronews über das Projekt
https://play.google.com/store/apps/details?id=namaa.ghrbtna.syria