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Wedding ist… unerschöpflich

3. Januar 2015

Wie ein Schrift­stel­ler 2008 in den Wed­ding kam – das erzählt Mat­thi­as Eber­ling in einem Gastbeitrag.

Matthias EberlingAls ich 2008 in den Wed­ding kam, war ich ein in zwei­fa­cher Hin­sicht Zuge­reis­ter. 1991 zog ich aus mei­ner rhein­hes­si­schen Hei­mat nach Ber­lin. Wel­che Stadt wäre damals, kurz nach dem Mau­er­fall, inter­es­san­ter gewe­sen? Zuerst leb­te ich im Kreuz­ber­ger Wran­gel­kiez, spä­ter in der West-City. Von mei­nem Schreib­tisch aus konn­te ich die Gedächt­nis­kir­che sehen.

Dann bekam ich die Stel­le als „Kiez­schrei­ber“ im Brun­nen­vier­tel. Drei Jah­re durf­te ich, bezahlt aus einem För­der­pro­gramm des Senats, über die­sen Teil von Ber­lin-Gesund­brun­nen schrei­ben. Es ent­stan­den Repor­ta­gen, Erzäh­lun­gen, his­to­ri­sche und sati­ri­sche Tex­te, Weih­nachts­mär­chen und Gedich­te. Am Ende mei­ner Zeit, im Herbst 2011, erschien sogar ein Kri­mi­nal­ro­man mit dem Titel „Wei­ßer Wed­ding“, der im win­ter­li­chen Brun­nen­vier­tel spielt. Denn im Volks­mund ist Gesund­brun­nen immer ein Teil des Wed­dings gewe­sen – auch wenn bei­de Stadt­tei­le heu­te dem Bezirk Mit­te zuge­ord­net sind.

Wedding GraffitiZum ers­ten Mal kam ich 1981 nach Ber­lin – und lan­de­te gleich im Wed­ding. Genau­er gesagt fing mein Ver­hält­nis zu Ber­lin im Wed­ding an. In der Kolo­nie­stra­ße. Hier war damals auf der Klas­sen­fahrt unse­re Jugend­her­ber­ge. An ihrer Außen­mau­er sah ich das ers­te Ber­li­ner Graf­fi­to mei­nes Lebens: „Auch Nixon tut wixen“. Von hier aus begann mei­ne nie­mals enden­de Ent­de­ckungs­rei­se durch die gro­ße Stadt. Jahr­zehn­te spä­ter lief ich als Kiez­schrei­ber wie­der durch die­se Stra­ße. Moment­auf­nah­men, Schnapp­schüs­se ohne Appa­rat: die Hin­ter­hof­werk­stät­ten, die alten Miets­ka­ser­nen, der tür­ki­sche Rent­ner, die Stu­den­tin, die klei­nen Läden – und die Jugend­her­ber­ge gibt es tat­säch­lich immer noch.

Ich kom­me aus Ingel­heim am Rhein, einer bedeu­tungs­lo­sen Klein­stadt in der Nähe von Mainz, die aus uner­find­li­chen Grün­den eine Städ­te­part­ner­schaft mit Kreuz­berg hat, einem der auf­re­gends­ten Orte Deutsch­lands. Wir unter­nah­men viel mit den Schü­lern aus unse­rer Part­ner­klas­se von der Leib­niz-Schu­le in der Nähe der Berg­mann­stra­ße. Ech­te Punks, Lang­haa­ri­ge mit Parkas, Jungs mit Ohr­rin­gen – das war das wil­de und gefähr­li­che Ber­lin, das wir in West­deutsch­land gera­de im Buch und im Film „Chris­tia­ne F.“ ken­nen­ge­lernt hat­ten. Vie­le von uns sind spä­ter nach Ber­lin gezo­gen, man­che sind auch wie­der heimgekehrt.

Ich habe über zwan­zig Jah­re in Ber­lin gelebt. Rein sta­tis­tisch hat sich in die­sem Zeit­raum die Bevöl­ke­rung Ber­lins ein­mal kom­plett aus­ge­tauscht. Mehr als 150.000 Men­schen kom­men jedes Jahr in die Stadt, fast genau­so vie­le ver­las­sen sie wie­der. Dazu kom­men Gebur­ten und Todes­fäl­le. Ber­lin ist ein atmen­der Orga­nis­mus – schon dar­um kann die­se Stadt nie­mals fer­tig wer­den und kei­nen Schlaf fin­den, sie ist für einen Schrift­stel­ler nicht in Wor­te zu fas­sen. Es ist, als ob man einen fah­ren­den Zug anma­len möchte.

Panke WiesenburgDer Wed­ding ist in mei­ner Erin­ne­rung in sei­ner Viel­falt ein Abbild der Groß­stadt. Hier fin­det sich alles wie­der, was typisch für Ber­lin ist. Die Bad­stra­ße und der Leo­pold­platz vibrie­ren vor Leben­dig­keit, hier geht es zu wie auf dem Ku’damm. Der Mau­er­park ist sonn­tags der leben­digs­te Ort in Ber­lin. Ver­träum­te Ecken wie am Ufer der Pan­ke oder im Hum­boldt­hain, wo sich ein Flak­bun­ker wie eine alte Burg­rui­ne ver­steckt, bie­ten die Gele­gen­heit zum Rück­zug und zum Nach­den­ken. Man atmet auf und zückt das Notiz­buch. In den Stra­ßen, in der U‑Bahn trifft man Men­schen aus allen Tei­len der Welt. Ein Schatz von Geschich­ten, den kei­ner jemals heben kann. Und wenn du hun­dert Jah­re zuhörst und hun­dert Jah­re schreibst, der Wed­ding ist unerschöpflich.

2011 habe ich den Wed­ding als Kiez­schrei­ber ver­las­sen, aber ich bin immer wie­der zurück­ge­kom­men. Mei­ne alten Stamm­knei­pe, das Off­side in der Jüli­cher Stra­ße, und die Bür­ger­stif­tungs­in­itia­ti­ve Wed­ding waren die Anknüp­fungs­punk­te. 2013 habe ich Ber­lin ver­las­sen und bin wie­der in mei­ne alte Hei­mat gezo­gen. Ich war erschöpft, müde und auch ein wenig ent­täuscht – in mei­ne Woh­nung war ein­ge­bro­chen wor­den und ich fühl­te mich dort nicht mehr wohl.

Aber der Wed­ding, ganz Ber­lin und ich sind Freun­de geblie­ben. Im letz­ten Jahr war ich drei­mal in Ber­lin, jeweils für zwei Wochen. Und 2015 wer­de ich wie­der­kom­men. Hier auf dem Land, wo ich inzwi­schen lebe – mit Blick auf das Gar­ten­häus­chen statt auf die Gedächt­nis­kir­che – ist es zwar so schön wie am Pan­keu­fer, aber ohne die Bad­stra­ße, ohne das wil­de Ber­lin, ohne die Traum­tän­zer und Maul­hel­den wer­de ich ver­mut­lich nie­mals leben können.

Der Autor Mat­thi­as Eber­ling hat sei­ne Kiez­schrei­ber-Tex­te und auch neue­re Arti­kel auf sei­nem Blog veröffentlicht.

Gastautor

Als offene Plattform veröffentlichen wir gerne auch Texte, die Gastautorinnen und -autoren für uns verfasst haben.

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