Die Wohnung oben würde ich gern mal sehen. Ich stelle sie mir vor wie einen Hobbykeller – mit Schummerlicht und unzähligen, mit schweren Apparaten voll gestellten Ikea-Regalen, die nicht lasiert oder lackiert wurden, einem Berg von Werkzeugen im Zentrum und einem kleinen, mickrigen Hibiskus auf der Fensterbank. Den Hibiskus habe ich einmal aus der Nähe gesehen, als die Frau im dritten Stock die Urlaubspflege übernahm und das Pflänzchen durch das Treppenhaus getragen wurde. Der Besitzer ist ein Herr mit schütterem Haar und Brille. Er wirkt ruhig – wie einer, der einfach nichts zu sagen oder viel zu verbergen hat. Doch die schweren Vibrationen und der kreischende Gesang seiner Bohrmaschine, die sich durch den Stahlbeton quält, sind stets präsent im ganzen Block.
Der ältere Herr mit dem Hund ganz unten hat sich endlich von seinem traurigen Blick befreit. Der Tod seines vierbeinigen Spazierfreundes vor einigen Jahren hatte ihm schwer zugesetzt, ich konnte es sehen und in seiner Stimme hören. Doch nun lächelt er sogar manchmal wieder zum Gruß, wenn ich ihm auf der Treppe begegne. Die Wohnung neben der Frau mit dem grünen Daumen und dem schönsten Balkon der Siedlung wird von zwei Frauen bewohnt, an denen zwei Dinge erwähnenswert sind: Sie sind verheiratet und kommen nicht los von der Flasche. Alle Hochs und Tiefs, aber besonders die Tiefs, ihrer Alkoholkarriere werden öffentlich in der hellhörigen Platte.
Ganz oben in der 6. Etage hat mal eine junge Frau gewohnt, die das Amt geschickt hat. Sie hatte zwei kleine Kinder, die sie gern stundenlang allein mit dem kläffenden Köter ließ. Sie unterhielt sich den halben Tag mit ihren Freundinnen – sie auf dem Balkon mit Kippe im Mundwinkel, die Freundinnen brüllten ihre Antworten zur Freude aller Mieter von der Straße aus zurück. Nachts begegnete ich manchmal auf den Stufen wechselndem Herrenbesuch auf dem Weg nach oben. So wechselnd und von zeitlich kurzer Dauer, dass ich auf merkwürdige Gedanken kam. Dem Vater eines der Kinder warf die Mieterin eines Tages unter lauterem Gebrüll als üblich das halbe Wohnungsinventar und den Inhalt eines Kleiderschrankes über die Balkonbrüstung entgegen. Wenig später zog sie selbst aus, still und leise.
Auch das junge Pärchen, der computersüchtige Mann und seine verwöhnte und stets unzufriedene Frau mit dem fast schulpflichtigen Kind, das sein spärliches Vokabular aus Talkshows oder von der netten Blumenfrau in der dritten Etage hatte, ist inzwischen ausgezogen. Geblieben sind die, die schon immer da waren, die stillen Alten, die Pragmatiker, die gern zentral und günstig wohnen, die Zugezogenen aus Allerherrenländer, die Unerschrockenen und die die glauben, der Wedding werde sich schon noch entwickeln. Auch den Mann, der es als Berufung empfindet, den Müll aller Nachbarn nachzusortieren, um die Betriebskosten zu senken, ist wohl fürs Leben ein fester Teil des Hauses.
Niemand will heute eigentlich in der Platte wohnen, insbesondere nicht die Menschen aus dem Prenzlauer Berg und aus Alt-Mitte von der anderen Seite der Straße. Vor der so genannten behutsamen Stadtsanierung war unser komplettes Viertel dem Erdboden gleich gemacht und mit als hässlich geltenden Neubauwohnungen bestellt worden. Ein Glück, denn diese Fassade schützt unser Viertel an der Grenze zu Mitte vor vielen Wohnungssuchenden und rasch steigenden Mieten. Und so kommen selten neue Nachbarn und wir wohnen hier alle zusammen, in der Mitte von Berlin: der Handwerker, der Rentner mit ohne Hund, die Blumenfrau, das homosexuelle Pärchen, der Müllsortierer und die anderen, deren Lebenslinien sich im der Neubaublock irgendwo im Wedding berühren.
Wedding ist nicht Wedding. So steht es auf der Seite www.planet-wedding.de. Blog-Betreiberin Dominique Hensel schreibt dort seit 2008 über ihre Erlebnisse im Wedding. Ab sofort lädt die Journalistin aus dem Brunnenviertel die Leser des Weddingweiser ein Mal im Monat dazu ein, einen Blick in die Welt einer Weddinger Familie zu werfen. Die private Kolumne über eine Familie auf dem Planeten Wedding – immer am ersten Mittwoch im Monat. Heute: Unter Nachbarn.
Foto/Text: Dominique Hensel