Manchmal entsteht Großes im Kleinen. Wie an der Lindower Straße. Sie war nie eine Schönheit. Warum sie im Jahr 1864 so genannt wurde, ist nicht ganz klar. Heute erinnert Namenspatin Lindow, die idyllisch zwischen Seen gelegene brandenburgische Kleinstadt, nicht mal ansatzweise an die Lindower Straße im Wedding. Und doch ist letztere ein ungeschliffener Rohdiamant. Ihr habt richtig gelesen: Diese Straße hat das Potenzial, irgendwann einmal ein richtig teures Pflaster zu werden.
Stadtplan von 1884
Eingeklemmt zwischen einem trapezförmigen Baublock und der Ringbahn war die verkehrsgünstig gelegene Straße bald Standort vieler Fabriken. Eine Panzerschrankfabrik (später Bode-Panzer AG) und die chemische Fabrik Max Haase & Co. siedelten sich hier an. Die ganze Gegend wurde "der kleine Wedding" genannt. Auch die Lindower Straße hatte die typische Mischung aus Produktionsstätten, einfachen Wohnungen und kleinen Geschäften.
Nach dem Krieg entstanden an der Ecke Müllerstraße einstöckige Flachbauten mit Schwarzmarktbuden, aus denen dann später Werkstätten und Imbisse wurden. Früher befand sich hier das Spielwarengeschäft Obst, gleich daneben ein Opel-Händler. Als diese Flachbauten 2014 abbrannten, ging ein Stück Weddinger Geschichte in Flammen auf. Damals schrieb unser Autor:
"Wer den Wedding kennen lernen möchte, braucht nur durch die Lindower Straße zu laufen – mit ihrer Kleinteiligkeit aus kulturellen Orten und interessantem Einzelhandel, von Moscheen über russische, polnische und türkische Tanzlokale, bis hin zu einem der besten Fischgeschäfte Berlins. Es besteht die Gefahr, dass ausgehend von dem Brand gefordert wird, hier jetzt Tabula rasa zu machen. Es ist zu befürchten, dass mit dem Abriss und der Bebauung der Ecke jene Urbanität verloren geht, die diese Straße und auch den Wedding ausmacht."
Die Veränderung, die 2014 zu erahnen war, begann eigentlich schon 2002, bei der Wiedereröffnung der Ringbahn. Einer der Zugänge führt direkt auf die Lindower Straße. Spätestens damals muss einigen Immobilienentwicklern klar geworden sein, wie gut die Anbindung dieser Gegend eigentlich ist: Der U-Bahnhof Wedding liegt gleich an der Ecke, und dann kam auch noch der Ringbahnanschluss dazu.
Heute zeigt sich die Straße schon deutlich anders als 2014. Die alten Fabriken wurden saniert und werden inzwischen neu genutzt. Ein Arthouse-Kino namens Sinema Transtopia ist in einem Hinterhof eingezogen, während an der Straße Weddings erste Listening Bar Migas eröffnet hat. Schon seit 2016 wird in einem anderen Fabrikgebäude bei Coffee Circle nachhaltig produzierter Kaffee geröstet. Im Vorderhaus versorgt das angeschlossene zweistöckige Café die neuen Bewohner:innen und Nutzer:innen der Straße. Früher wäre ein junges, akademisches Publikum wohl kaum in dieser Straße anzutreffen gewesen. Sogar eine Kunstbuchhandlung namens „ap“ hat es eine Zeitlang gegeben. Vielleicht war dieser Teil des Wedding noch nicht reif dafür?
Doch das ist nur eine Frage der Zeit. Ein Laden mit Designermöbeln aus Pilzen(!) wirbt auf englisch für seine Produkte. Und ein einzigartiges Woll-Geschäft zieht Kunden aus der ganzen Stadt in die Straße.
An ihrem westlichen Ende feiert der Kapitalismus sich selbst: Ein 36 Meter hohes Büro- und Appartementhaus thront an der Ecke Müllerstraße und Lindower Straße. Nicht nur für Lindower Straßen-Verhältnisse, auch für Weddinger Begriffe ist das schneeweiße Hochhaus ungewöhnlich schlicht und elegant. Wer noch die alten Nachkriegsbuden bis 2015 kannte, wird sich die Augen reiben, auch wegen der Mieten, die dort abgerufen werden. Selbst die Redaktion des "tip" mit seinem noch immer relevanten Berichterstattung über die Berliner Kultur ist jetzt in dem Hochhaus angesiedelt. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass ein solches Medium vom Wedding aus produziert wird. Im Erdgeschoss sind Mieter wie EDEKA, Rossmann und eine teure Bäckerei zu finden. Vor allem an ihrem Anfang ist die Lindower Straße also nicht mehr wiederzuerkennen.
Aber so sehr das Neue strahlt, so sehr beharrt das Alte darauf, seinen angestammten Platz zu behaupten. Die Straße ist deutlich verdreckter als andere, selbst für Weddinger Verhältnisse. Im Dunkeln ist sie besonders abweisend und ungemütlich. Und ein Späti, eine Moschee, ein Abschleppdienst, eine Fahrschule, ein Süßwarenladen und eine türkische Fleischerei halten die Stellung - ebenso wie die Zweckbauten mit dem MAKSIM-Festsaal und dem Royal Palace für türkische Hochzeiten. Das zeigt: Richtig schick wird die Straße so schnell nicht werden, dafür leistet der alte Wedding zu sehr Widerstand.
Je weiter man Richtung Nettelbeckplatz läuft, desto mehr sieht die 200 Meter lange Lindower Straße aus wie jede andere, etwas runtergekommene Weddinger Straße. Leerstand, Graffiti, Müll und sichtbare Armut sind hier an der Tagesordnung. Dass nur hundert Meter weiter ein ganz anderes Publikum in Kunstgalerien oder in anspruchsvolle Filme geht und in Cafés teuren Filterkaffee genießt, wirkt hier völlig unvorstellbar. Hier bestimmen wieder die üblichen Imbisse, Spätis und türkische Bäckereien das Straßenbild. Und gleich um die Ecke gibt es noch immer den Magendoktor als Symbol für den alten Wedding.
Poller machen die Lindower Straße zu einer Sackgasse; der Nettelbeckplatz selbst ist seit 1987 autofrei. Das wird dazu beigetragen haben, dass die Straße eher randständige Nutzungen angezogen hat. Doch nun steht diese verkehrsgünstig gelegene Gegend direkt an der Ringbahn im Fokus von solventen Investoren, Kulturinteressierten, Start-ups und Gewerbemietern. Und der Trend wird sich langfristig nicht aufhalten lassen, der Makel des schlechten Wedding scheint heute eher zum Vorteil der Gegend geworden zu sein: Aufregende Kontraste verleihen der früher so veloren wirkenden Straße einen gewissen Reiz, den auch Neuzugezogene und Leute, die dort arbeiten, längst erkannt haben. Von der schäbigen Lindower Straße der einfachen Leute werden wir uns wohl irgendwann verabschieden müssen - spätestens wenn auch ihr östlicher Teil in den Sog der Aufwärtsentwicklung gerät. Bis dahin bleibt die Lindower wohl noch eine Straße, in der im Moment alles nebeneinander existiert. Hoffen wir, dass die Straße am Ende immer noch so etwas wie "Der kleine Wedding" bleibt.
Schöner Bericht, der die Straße in all ihrer Vielfalt zeigt. Ich mag die Cafes am Anfang der Straße nicht, weil man dort nicht mit Bargeld zahlen kann und meist auch nur auf blasierte englischsprachige Bedienungen trifft.
Zur Abrundung wäre noch zu erwähnen, dass der Nettelbeckplatz von allen Seiten von der Kulturszene übernommen wird. In der Gerichtsstraße sind mit dem Silent Green verschiedene sehr teuren Restaurants und das B-Flat dazu gekommen. Und auf der anderen Seite der Reinickendorfer Straße haben sich das Savvy Contemporary und das Baumhaus etabliert..
Schöne Erinnerungen
In den 50gerJahren hab ich mir bei Obst am Wedding die Nase an den Schaufenstern plattgedrückt und in den 60ger Jahren war das mein liebstes Geschäft für meine Eisenbahn. Viele Stunden habe dort verbracht und vel Geld da gelassen. ;Mein damaliger Arbeitgeber Schering war ja auch nicht weit und darum hab ich so manche Pause bei Obst verbracht. Schöne Erinnerung.
Die Hoffnung, dass die Straße in Teilen bleibt, wie sie bis heute ist, kann ich nicht so recht teilen. Neue Cafés (die Rösterei) sowie das Sinema samt Innenhof sind mir deutlich lieber und schöner als der Rest. Und der Zustand bei Dunkelheit ist absolut richtig benannt.