Zwischen Hauptbahnhof und dem Ufer des Schifffahrtskanals, rund um die Heidestraße, entsteht gerade ein riesiges neues Stadtviertel, das offiziell Europacity genannt wird. Wir erklären euch, wieso uns das im Wedding interessiert und was es dazu an Fakten zu wissen gibt.
1. Erstmals wird hier gewohnt
Über 10.000 Arbeitsplätze (beispielsweise die Unternehmenszentralen von TOTAL oder 50Hertz) und über 3.000 Wohnungen wurden gebaut oder entstehen noch. Der 1846 gebaute, heute noch vorhandene Hamburger Bahnhof und der nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissene Lehrter Bahnhof bildeten bis zum 2. Weltkrieg einen der größten Eisenbahnstandorte Berlins. 1983 wurde ein Containerbahnhof angelegt. Die “Westtangente”, eine Stadtautobahn zwischen Schöneberg und dem Wedding, sollte ebenfalls hier entlangführen. Nach dem Mauerfall verfiel das Areal in einen Dornröschenschlaf, bis es von Künstlern und Kreativen entdeckt wurde. Nach der Eröffnung des Hauptbahnhofs 2006 wurde ein Masterplan für die 42 Hektar große Fläche erarbeitet; ab 2014 drehten sich die Kräne. Ursprünglich gehörte das Gelände der Deutschen Bahn, die es an die CA Immo verkaufte. Wegen der privaten Besitzverhältnisse konnte vom Land Berlin aus wenig in die Strukturen eingegriffen werden.
2. Keine öffentlichen Gebäude
Rund um den Hamburger Bahnhof sollte ein Kunstcampus entstehen – doch Galerien oder Ateliers sucht man vergebens. Auch gibt es keine Kirche, keine Bibliothek oder irgendein anderes öffentliches Gebäude, das dem Wohn- und Büroviertel eine besondere Note geben würde. Nicht einmal eine Schule gibt es – statt dessen wurde an der Boyenstraße/Chaussestraße im Wedding ein Schulneubau errichtet, der auch für Grundschüler aus der Europacity Raum bietet. Dies bietet die Chance, dass sich das Viertel nicht völlig abschottet. Einzige Attraktion ist der Stadtplatz zwischen Heidestraße und Kanal, der Otto-Weidt-Platz. Ein paar Geschäfte wird es auch geben, so sind die Mietverträge für eine dm-Filiale und einen REWE an der Heidestraße unterschrieben. Die TOTAL-Tankstelle an der Heidestraße ist bestehen geblieben.
3. Mit dem Wedding verbunden
Bislang fuhr der 142er-Bus montags bis samstags tagsüber vom Sprengelkiez kommend durch die Europacity. Ende 2020 wurde die Anbindung deutlich verbessert. Seither fährt die Linie 147 teilweise alle zehn Minuten und auch täglich vom Leo über die Fennstraße durch die Europacity zum Hauptbahnhof. Ein Halt an der neu gebauten S‑Bahn-Linie (S 15), die Ende 2021 eröffnet werden soll, wurde zwar angedacht, aber (noch) nicht gebaut. So bleibt die Europacity in ihrem nördlichen Bereich ziemlich abgehängt und nur mit Bussen angebunden – allerdings kommt man so wenigstens schnell in den Wedding, wo es wesentlich quirliger zugeht als in der gesichtslosen Europacity.
4. Brückenschlag und ein Park
Brücke, Platz, Promenade und Freitreppe werden das “Highlight” der Europacity, schreibt die Senatsverwaltung. Gemeint ist der Stadtplatz in der Mitte der Europacity, der Otto-Weidt-Platz, wo es einen Brückenschlag in Richtung Mitte und Wedding gibt. Die 9,6 Millionen Euro teure, mit ihrem auffälligen gelben Muster aufwändig gestaltete, barrierefrei zugängliche Brücke für Fußgänger und Radfahrer verbindet die Europacity über den Schifffahrtskanal hinweg mit der Kieler Straße am Bundeswehrkrankenhaus. Sie ist 80 Meter lang. Ihre goldgelbe Farbe verdankt sie der Namensgeberin Golda Meir, die israelische Ministerpräsidentin war.
Eine weitere Brücke gibt es an der Grenze zum Wedding, weiter im Norden. Dort befindet sich der ehemalige Kornversuchsspeicher mit seiner alten Backsteinfassade. Wie der Name bereits vermuten lässt, diente das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert lange Zeit nicht nur als Speicher, sondern hier wurden auch wissenschaftliche Untersuchungen zur Lagerung von Getreide durchgeführt.
Zwischen der Lehrter Straße und der Europacity entsteht der Döberitzer Grünzug. Auf über 4 Hektar wird es eine Nord-Süd-Verbindung geben, die auch von der Lehrter Straße aus erreichbar ist. Der neue Park wird nicht vor 2024 fertiggestellt sein.
5. Viel Kritik an der Europacity
Das Wohnen ist ganz schön teuer. Manche Mietwohnungen kosten zwischen 13,50 und 16 Euro nettokalt pro qm. Für eine 100 qm große Wohnung in den „Wiener Etagen“ müssen rund 2000 Euro warm hingeblättert werden. Eigentumswohnungen an der Uferpromenade können 5900 – 8700 Euro pro qm kosten. Nur für den letzten Baubschnitt konnte seitens des Landes ein Anteil von 25 % öffentlich geförderten Wohnungen erreicht werden. Insgesamt wird es daher nur 257 Sozialwohnungen in dem ganzen Gebiet geben. Auch wurde es versäumt, Baugruppen aufzunehmen. Daher ist die Europacity nur von wenigen Investoren bebaut worden – entsprechend monoton ist die Struktur.
Ursprünglich war viel mehr geplant, kleine Parzellen und auch Townhouses, ein kleiner Hafen auf dem Stadtplatz… Das alles wurde immer weiter weggespart und vereinfacht. Nun ist eine Bürostadt in Bahnhofsnähe entstanden, an die sich einfach nur Blöcke mit Wohnungen anschließen. Anders als ursprünglich geplant sind die Besitzverhältnisse auch nicht kleinteilig, sondern es gibt nur zehn Investoren und keine Baugruppen. Die wenigen Sozialwohnungen, die fehlenden öffentlichen Treffpunkte und zu wenige Parks werden auch nicht dazu beitragen, dass in dem Neubauviertel ein “Kiezgefühl” entsteht. Fazit: eine vertane Chance!
Wirklich ein guter Bericht! Dankeschön. Wenn man durch das Europaviertel fährt kommt wirklich kein Kiezgefühl auf. Ein Block hässlicher und charakterloser als der andere. Eine echte Schande. Was sie aus den „83 Fußballfeldern“ alles hätten machen können… das ganze Viertel fühlt sich lediglich wie eine geschmacklose Geldanlage an.
Guter Bericht!!!!
.…..gut zusammenengefasst, der Artikel zur Europacity!
Für weiterführende Informationen empfehle ich:
https://amrandvoneuropa.city/ ein mehrjähriges Kulturkonzept, dass sich mit der “Europacity” auseinandersetzte.
Auffallend ist, dass seit der Öffnung des Nordufers zur Lynar Str. der “Druck” auf den Sprengelkiez sehr zugenommen hat. Es ist eine der wenigen Fluchtrouten, diesen Betonkasernen zu entfliehen und Erholung mit etwas Grün zu finden.
Danke für den ausführlichen Beitrag!
Von meiner Wohnung aus kann ich die Kräne nachts leuchten sehen, wie ein riesiger Christbaum..