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Eine Stunde Wedding:
29 Euro-Ticket: Ein Lustspiel in drei Akten

14. Januar 2023
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Oslo­er Straße

Es war in der U8 Rich­tung Alex­an­der­platz. Ich stei­ge Oslo­er Stra­ße in eine schö­ne, neue neon­grell beleuch­te­te Bahn und sehe dort gleich neben der Tür, unter den hoch­ge­klapp­ten Sit­zen zwei rie­si­ge, in sich zusam­men­ge­fal­le­ne Turn­schu­he ste­hen. Direkt dane­ben ein paar Socken. Erstaun­lich flott erfas­se ich die Situa­ti­on und schreie dem gro­ßen Mann mit den dunk­len, lan­gen Haa­ren, der sich beim Ein­stei­gen an mir vor­bei auf den Bahn­steig gedrückt hat hin­ter­her: „Hey, hast dei­ne Schu­he ver­ges­sen!” Der läuft bar­fü­ßig noch ein Stück weg, dreht sich dann um, kommt wie­der durch die noch offen ste­hen­de Tür und brum­melt fast schon char­mant: „Hach ja, mei­ne Schu­he. Soll­te ich wohl mit­neh­men.” Packt sei­ne Lat­schen und die Socken, ver­gisst sei­ne Dose mit dem Ener­gy-Drink, die noch oben auf der Sitz­rei­he steht und ver­schwin­det in Selbst­ge­sprä­che ver­tieft aus mei­nem Blick.

Das alles hat zusam­men kei­ne 10 Sekun­den gedau­ert. Die Tür schließt sich mit lau­tem Gequä­ke und ich ste­he ori­en­tie­rungs­los im Gang. An der Wand gegen­über sitzt ein jun­ger Kerl, der mei­ne Unschlüs­sig­keit , trotz der Mas­ke in mei­nem Gesicht, genau als das deu­tet, was sie ist: Näm­lich die Abnei­gung, sich auf den Platz zu set­zen, auf dem der Ver­wirr­te saß. Wer weiß, was er sonst noch da ver­ges­sen hat. Er klappt den Sitz neben sich her­un­ter und lacht mich mit einer freund­li­chen Zuver­sicht an, die ich schon lan­ge nicht mehr gese­hen habe. Bübisch wäre ein alt­mo­di­scher Begriff dafür. Ein offe­nes, waches Gesicht, weder bla­siert noch doof. Er scheint das Absur­de der Situa­ti­on zu genie­ßen, als sei es ein Thea­ter­stück, das er sich ger­ne anschaut, ohne mit­spie­len zu müssen. 

Schon wird der zwei­te Akt gege­ben. Ein stäm­mi­ger Mann steht zum Aus­stei­gen vor der nächs­ten Sta­ti­on an der Tür, sieht die Limo­na­den­do­se, nimmt sie prü­fend in die Hand, dreht sie um, schüt­tet den Rest Zucker­was­ser über den Sitz, steckt die Dose stumpf in sei­ne ran­zi­ge Ein­kaufs­ta­sche und geht durch die sich öff­nen­de Tür ab. Auf­tritt eine Mut­ter mit Toch­ter und blü­ten­wei­ßer Hose. Sie wählt den besu­del­ten Sitz für sich und ihr Kind und ist gera­de dabei, ihn her­un­ter­zu­klap­pen, als ich durch die Mas­ke rufe: „Nicht hin­set­zen, der Sitz ist nass.” Die Frau ver­steht mich nicht, schaut mich unwil­lig an, spricht etwas zu ihrer Toch­ter, wahr­schein­lich auf Ukrai­nisch und trollt sich in eine ande­re Wagen­ecke. An der nächs­ten Sta­ti­on über­nimmt mein Nach­bar die Rol­le des War­ners. Er ruft und fuch­telt mit den Hän­den und es gelingt auch ihm, die neu­en Fahr­gäs­te davor zu bewah­ren, mit dunk­len Fle­cken auf der Hose die Bahn zu ver­las­sen. Wir schau­en uns fröh­lich an und sind ein­ver­stan­den mit unse­rer neu­en Auf­ga­be. Doch schon an der nächs­ten Sta­ti­on ent­glei­tet uns die Regie. Lärm von drau­ßen über­tönt unse­re Warn­ru­fe und ein gro­ßer, schwe­rer schwar­zer Mann lässt sich wuch­tig auf den Sitz fal­len. Der Sitz wäre nun tro­cken. Und das ist auch gut so, denn wir hilf­lo­sen Hel­fer brau­chen jetzt alle Auf­merk­sam­keit, um uns selbst zu retten. 

Zum drit­ten Akt betritt die Poli­zei von rechts die schwan­ken­de Büh­ne, einen Uni­for­mier­ten der BVG im Schlepp­tau. Die Beam­ten stür­zen sich ziel­si­cher auf mei­nen Nach­barn. Weil ich die U‑Bahn nur noch mit Ohr­stöp­seln betre­te, seit wegen der Hit­ze oder wegen Coro­na in den Wagen die Fens­ter offen ste­hen und das infer­na­li­sche Gekrei­sche der Wagen­rä­der ins Inne­re der Bahn über­tra­gen wird, ver­ste­he ich nicht gleich wor­um es geht. Aber es kann nur eins bedeu­ten: „Die Fahr­schei­ne bit­te.” Und mein immer noch lächeln­der Nach­bar zuckt mit den Ach­seln. Wie­der bin ich gleich bei der Sache, zie­he mein 29 Euro-Ticket aus der Hosen­ta­sche, schie­be es ihm rüber und rau­ne ihm zu: „Sag ihnen, du fährst mit mir auf mei­ner Kar­te”, und füh­le mich an mei­ne anar­chi­schen Anfän­ge in Ber­lin erin­nert. Mann, hab ich’s noch drauf. Aber der Jun­ge grinst fast mit­lei­dig: „Ist wegen der Mas­ke.” Sagt’s und ich mer­ke erst jetzt, war­um ich die gan­ze Zeit in sein fröh­li­ches Gesicht schau­en konn­te. Als er abge­führt wird, ist es als wür­de mir ein guter Freund ent­ris­sen. Einer, mit dem die­ses Irren­haus bes­ser zu ertra­gen wäre, obwohl ich Mas­ken­geg­ner eigent­lich nicht tole­rie­re. „Viel Spaß!”, rufe ich ihm hin­ter­her und er grinst zurück.

Rolf Fischer

Ich lebe gerne im Wedding und schreibe über das, was mir gefällt. Manchmal gehe ich auch durch die Türen, die in diesem Teil der Stadt meistens offen stehen.

1 Comment Leave a Reply

  1. Hi Rolf!
    Die U‑Bahn, der ÖPNV ist wirk­lich ein beweg­ter, bun­ter und erfah­rungs­rei­cher Ort.
    Vllt soll­ten wir noch eine 250-Zei­chen-Kolum­ne “in den Öffent­li­chen im Wedding”
    einführen?
    🙂 Renate

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