Es war in der U8 Richtung Alexanderplatz. Ich steige Osloer Straße in eine schöne, neue neongrell beleuchtete Bahn und sehe dort gleich neben der Tür, unter den hochgeklappten Sitzen zwei riesige, in sich zusammengefallene Turnschuhe stehen. Direkt daneben ein paar Socken. Erstaunlich flott erfasse ich die Situation und schreie dem großen Mann mit den dunklen, langen Haaren, der sich beim Einsteigen an mir vorbei auf den Bahnsteig gedrückt hat hinterher: „Hey, hast deine Schuhe vergessen!” Der läuft barfüßig noch ein Stück weg, dreht sich dann um, kommt wieder durch die noch offen stehende Tür und brummelt fast schon charmant: „Hach ja, meine Schuhe. Sollte ich wohl mitnehmen.” Packt seine Latschen und die Socken, vergisst seine Dose mit dem Energy-Drink, die noch oben auf der Sitzreihe steht und verschwindet in Selbstgespräche vertieft aus meinem Blick.
Das alles hat zusammen keine 10 Sekunden gedauert. Die Tür schließt sich mit lautem Gequäke und ich stehe orientierungslos im Gang. An der Wand gegenüber sitzt ein junger Kerl, der meine Unschlüssigkeit , trotz der Maske in meinem Gesicht, genau als das deutet, was sie ist: Nämlich die Abneigung, sich auf den Platz zu setzen, auf dem der Verwirrte saß. Wer weiß, was er sonst noch da vergessen hat. Er klappt den Sitz neben sich herunter und lacht mich mit einer freundlichen Zuversicht an, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Bübisch wäre ein altmodischer Begriff dafür. Ein offenes, waches Gesicht, weder blasiert noch doof. Er scheint das Absurde der Situation zu genießen, als sei es ein Theaterstück, das er sich gerne anschaut, ohne mitspielen zu müssen.
Schon wird der zweite Akt gegeben. Ein stämmiger Mann steht zum Aussteigen vor der nächsten Station an der Tür, sieht die Limonadendose, nimmt sie prüfend in die Hand, dreht sie um, schüttet den Rest Zuckerwasser über den Sitz, steckt die Dose stumpf in seine ranzige Einkaufstasche und geht durch die sich öffnende Tür ab. Auftritt eine Mutter mit Tochter und blütenweißer Hose. Sie wählt den besudelten Sitz für sich und ihr Kind und ist gerade dabei, ihn herunterzuklappen, als ich durch die Maske rufe: „Nicht hinsetzen, der Sitz ist nass.” Die Frau versteht mich nicht, schaut mich unwillig an, spricht etwas zu ihrer Tochter, wahrscheinlich auf Ukrainisch und trollt sich in eine andere Wagenecke. An der nächsten Station übernimmt mein Nachbar die Rolle des Warners. Er ruft und fuchtelt mit den Händen und es gelingt auch ihm, die neuen Fahrgäste davor zu bewahren, mit dunklen Flecken auf der Hose die Bahn zu verlassen. Wir schauen uns fröhlich an und sind einverstanden mit unserer neuen Aufgabe. Doch schon an der nächsten Station entgleitet uns die Regie. Lärm von draußen übertönt unsere Warnrufe und ein großer, schwerer schwarzer Mann lässt sich wuchtig auf den Sitz fallen. Der Sitz wäre nun trocken. Und das ist auch gut so, denn wir hilflosen Helfer brauchen jetzt alle Aufmerksamkeit, um uns selbst zu retten.
Zum dritten Akt betritt die Polizei von rechts die schwankende Bühne, einen Uniformierten der BVG im Schlepptau. Die Beamten stürzen sich zielsicher auf meinen Nachbarn. Weil ich die U‑Bahn nur noch mit Ohrstöpseln betrete, seit wegen der Hitze oder wegen Corona in den Wagen die Fenster offen stehen und das infernalische Gekreische der Wagenräder ins Innere der Bahn übertragen wird, verstehe ich nicht gleich worum es geht. Aber es kann nur eins bedeuten: „Die Fahrscheine bitte.” Und mein immer noch lächelnder Nachbar zuckt mit den Achseln. Wieder bin ich gleich bei der Sache, ziehe mein 29 Euro-Ticket aus der Hosentasche, schiebe es ihm rüber und raune ihm zu: „Sag ihnen, du fährst mit mir auf meiner Karte”, und fühle mich an meine anarchischen Anfänge in Berlin erinnert. Mann, hab ich’s noch drauf. Aber der Junge grinst fast mitleidig: „Ist wegen der Maske.” Sagt’s und ich merke erst jetzt, warum ich die ganze Zeit in sein fröhliches Gesicht schauen konnte. Als er abgeführt wird, ist es als würde mir ein guter Freund entrissen. Einer, mit dem dieses Irrenhaus besser zu ertragen wäre, obwohl ich Maskengegner eigentlich nicht toleriere. „Viel Spaß!”, rufe ich ihm hinterher und er grinst zurück.
Hi Rolf!
Die U‑Bahn, der ÖPNV ist wirklich ein bewegter, bunter und erfahrungsreicher Ort.
Vllt sollten wir noch eine 250-Zeichen-Kolumne “in den Öffentlichen im Wedding”
einführen?
🙂 Renate