Dieses Jahr war für uns, die Brauseboys, wie für viele Weddinger, von einem Umzug geprägt. Nach zehn Jahren haben wir als Lesebühne unsere Spielstätte in den Osram-Höfen verlassen und sind für die Lesungen donnerstags in einen neuen Raum im Eschenbräu umgezogen. So schön wir uns dort seit dem Frühjahr eingerichtet haben, hat uns aber die Nachricht sehr betrübt, dass das liebgewonnene La Luz zum Jahresende schließen muss. Zeit für einen Rückblick und Abschied, den Robert Rescue stellvertretend an einem Utensil abgehalten hat, das nicht mit umgezogen ist. Wir danken dem La Luz für die schönen Jahre, insbesondere Guido Wendering und Nuno, und wünschen alles Gute für das, was kommen wird.
Abgesang auf den Teppich
Lieber Teppich,
heute liegst du an einer zentralen Position auf der Bühne, wo du sonst unten liegst und von den meisten nicht wahrgenommen wirst. Das hat einen besonderen Grund, der mit dem Auszug der Brauseboys aus dem La Luz zu tun hat.
Es ist über 16 Jahre her, dass der Gründer der Brauseboys dich irgendwo auf einem Weddinger Bürgersteig fand und auf die Idee kam, dich ins Laine-Art zu schleppen, um der neu gegründeten Bühne mit einem eigenen Teppich ein unverwechselbares Merkmal zu geben. Ob es tatsächlich Nils Heinrich war, der den Teppich fand, weiß er selbst nicht mehr. Ich war es jedenfalls nicht. 2003, als ich den Wedding kennenlernen durfte, gingen mir beim Anblick eines herumliegenden Teppichs zwar so Gedanken durch den Kopf wie: „Boah, was für ein krass geiler Bezirk. Die Leute legen hier ihre gebrauchten Möbel auf den Bürgersteig. Boah, krass, das ist so geil.“, aber ich wäre nicht so begeistert gewesen, um ihn mitzunehmen, um auf diese Weise das karge Ateliers-Interieur von Teppo Jokinen und Jaakko Laine um einen schon damals maroden Teppich zu erweitern. Heute übrigens, nach inzwischen 14 Jahren wohnhaft im Wedding, denke ich in der gleichen Situation: „Verdammte Scheiße! Welches verdammte Arschloch schmeißt seinen verfickten, verranzten Teppich auf die Straße, anstatt ihn zur verdammten BSR zu bringen und glaubt dann auch noch, irgendein Penner würde ihn mitnehmen. An die Wand stellen sollte man die Drecksau.“
Seit 16 Jahren liegst du donnerstags vor der Bühne. Einmal die Woche, für drei Stunden. Das sind, grob geschätzt, eine Menge Stunden und die meiste Zeit davon sind Leute über dich gegangen, haben Schuppen, Bier, Kaffee, Schnitzel mit Pommes, La Luz-Burger, Erdnüsse und Salzstangen, Dreck, Regen und Schnee auf dich verteilt. Das ist nicht schön und mehr, als ein Teppich sonst auszuhalten hat.
Außer ein paar Male, wenn ich mit dem Staubsauger über dich gegangen bin, wurde dir nie irgendeine Pflege zuteil. Kein Teppichschaum, kein Ausklopfen, keine Form von irgendeiner Wellness. Irgendwie wurdest du all die Jahre ignoriert, warst aber doch ein wichtiger Bestandteile der Show. Keiner der Gäste hat mal gesagt, dass wir einen schönen Teppich haben, es wurde nicht einmal darauf hingewiesen, dass wir überhaupt einen Teppich haben. Wahrscheinlich halten die uns alle für bekloppt und widerwärtig, weil deine Löcher immer größer wurden und du jedem ästhetischen Anspruch gespottet hast.
Vor Jahren gab es mal die Gelegenheit, dich auszutauschen. Ein gut gepflegter Teppich aus einer Haushaltsauflösung. Ein geeigneter Zeitpunkt für einen Wechsel.
Aber wie in jeder sozialen Gruppe gibt es auch bei den Brauseboys konservative Kräfte, die den Tag deiner Anschaffung als gültig für alle Ewigkeit und darüber hinaus betrachten und die „Anpassungsfähigkeit an veränderte Umstände“ als ketzerisch brandmarken. Über den Grad deines Verschleißes haben sie sich damals wie auch heute keine Gedanken gemacht.
Eine neue Ära bricht an
Aber der Umzug ins Eschenbräu ändert die Lage. Die Zeit ist gekommen für Veränderungen. Das betrifft nicht nur die Anschaffung von neuen Scheinwerfern, die mittels Fernbedienung rotes, blaues, grünes und pastelliges Licht können, die Rückkehr von Nils Heinrich und die damit verbundene „Dauer-Leihgabe“ eines kompakten, modernen Beamers mit Internet-Zugang, der Bilder in HD werfen kann, sondern auch die Frage, was mit dem alten, ekligen Ding passieren soll, das keiner mehr anfassen mag. Einer schlug vor, dich zu verbrennen, was mich fragen lässt, wes Geistes Kind derjenige ist. Dieser Vorgang dürfte eine Konzentration an umweltschädlichen Stoffen freisetzen, die eine tagelange Evakuierung des Wedding nötig machen.
Lieber Teppich, du ahnst, was ich damit sagen will. Deine Zeit ist gekommen. Viele Jahre lagst du im Wohnzimmer von Ehepaar Schaluppke aus der Liebenwalder Straße, die dich 1973 auf dem Basar in Antalya für schlappe 8.000,- DM gekauft haben, bis ihr Sohn Ewald Krötenich, geborener Schaluppke einen Ausflug der Eltern mit dem Freundeskreis Weddinger Städtepartnerschaften zur freiwilligen Feuerwehr Barnim dazu nutzte, den Touristen-Nepp gegen einen IKEA-Teppich der Modellreihe LÖMKE auszutauschen, der im übrigen dem Vorgänger so ähnlich sieht, dass Ehepaar Schaluppke den Austausch 2003 bis heute nicht gemerkt hat. Zusammen mit den Jahren bei den Brauseboys kommst du somit auf 46 Jahre Liegezeit, wobei du die 16 Jahre bei den Brauseboys, meist zusammengerollt und lieblos zusammengedrückt, in einer Ecke dein Dasein gefristet hast.
Lieber Teppich, ich stelle mir vor, dass es so eine Art Teppich-Walhalla gibt, in das verdiente Teppiche, die alles mit sich haben machen lassen, aufgenommen werden. Dort wirst du jeden Tag mit einem Teppichschaum in der Duftrichtung Mango-Zimt eingeschäumt und feengleiche Geschöpfe staubsaugen dich zweimal am Tag mit einem richtig guten Sauger der Firma Dyson, auf das kein Staubkorn auf dir lasten mag und deine Fransen werden dreimal am Tag mit einem goldenen Kamm gekämmt. Betreten darf dich nur, wen du für würdig erachtest und wer das ignoriert, soll vom Blitz getroffen werden.
Lieber Teppich, wir werden dich jetzt entlassen und dich deinem Schicksal überantworten. Wer weiß, vielleicht wirst du nicht bleiben, wo wir dich nun hinbringen werden oder das mit dem Teppich-Walhalla war nur so ein Einfall von mir, damit der Text nicht „einseitig“ wird, also von der Länge her? Womöglich steht dir eine Wiedergeburt als trendige Handtasche oder roter Teppich bei der Berlinale bevor. Mit dieser Hoffnung wollen Frank und ich dich nun begleiten, während DJ Volker ein wahrhaft passendes Lied anstimmen wird, nämlich das großartige „Adieu“ von Zarah Leander.
Wir sagen DANKE FÜR DIE GEMEINSAME ZEIT!
Jahresrückblick der Brauseboys
Die Brauseboys schauen auch von der Bühne auf das Jahr zurück – vom 12.12.–11.1. im Prenzlauer Berg.
Satire und Liedgut, dazu bewegte Bilder – ein Multimediaereignis!
Was kam 2019 nicht alles unter die Räder? Weltklima, Menschenverstand, Mieter. Doch der gemeine Berliner hat andere Probleme, für ihn ist klar: Die Apokalypse rollt auf E‑Rollern heran.
In ihren wöchentlichen Leseshows haben Thilo Bock, Nils Heinrich, Robert Rescue, Frank Sorge, Volker Surmann und Heiko Werning das Jahr 2019 intensiv beobachtet, nun präsentiert die Weddinger Vorlese-Boygroup ihren Jahresrückblick.
Seit 12.12. beinahe täglich um 20 Uhr im Kookaburra (Schönhauser Allee 184)
www.comedyclub.de
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Ab 16.1.2020 lesen Thilo Bock, Nils Heinrich, Robert Rescue, Frank Sorge, Volker Surmann, Heiko Werning und Gäste dann wieder jeden Donnerstag um 20.30 Uhr im Eschenbräu.
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