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Wiesenburg: Dornröschen, aufgewacht

15. September 2016
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wiesenburg-festivalWenn eine Rui­ne zuwu­chert und aus dem Bewusst­sein der Nach­barn ver­schwin­det, redet man gern vom Dorn­rös­chen­schlaf. Wenn das Bild auch bei der Wie­sen­burg zutref­fen soll­te, so darf das wild­ro­man­ti­sche Gelän­de jetzt end­gül­tig als wach­ge­küsst gel­ten. Anders ist das gro­ße Publi­kums­in­ter­es­se beim ers­ten Wie­sen­burg­fes­ti­val an die­sem so ver­wun­schen wir­ken­den Ort mit­ten im Wed­ding, an der Pan­ke, nicht zu erklären.

wiesenburg7Etwas geben, ohne Gegenleistung

Von Prin­zen, die daher­kom­men, um das ehe­ma­li­ge Obdach­lo­sen­asyl wach­zu­küs­sen, kann indes kei­ne Rede sein. Eher ist es der neue Eigen­tü­mer, die städ­ti­sche Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft Dege­wo, die den reiz­vol­len Stand­ort ent­wi­ckeln möch­te. Die bis­he­ri­gen Bewoh­ner und Bewah­rer des Denk­mals, die in einem Ver­ein orga­ni­sier­ten “Wie­sen­bur­ger”, haben wenig Geld ent­ge­gen­zu­set­zen. Sie möch­ten aber mit ihrem krea­ti­ven Poten­zi­al, ihrer Erfah­rung und ihrer Orts­kennt­nis in die­sen Pro­zess inte­griert wer­den. Damit nicht nur für sie selbst, son­dern auch für den umlie­gen­den Kiez etwas dabei her­um­kommt. Etwas geben, ohne eine Gegen­leis­tung zu erwar­ten, das hat hier näm­lich Tra­di­ti­on, sagt Robert Bitt­ner, der Hun­der­te Besu­cher beim ers­ten Wie­sen­burg­fes­ti­val am 10. und 11. Sep­tem­ber in den nicht abge­sperr­ten Berei­chen des 12 000 Qua­drat­me­ter gro­ßen Gelän­des herumführt.

Kleingewerbe, Kunst und Underground sind schon da

Das Pharaonenbett
Das Pha­rao­nen­bett

Was die vie­len Besu­cher die­ses Are­als stau­nend fest­stel­len: die Wie­sen­burg ist ein leben­di­ger Kul­tur­ort – mit einer Tanz­hal­le, einem Ton­stu­dio, zwei metall­ver­ar­bei­ten­den Klein­be­trie­ben und sogar mit einem Imker, der ech­ten Wie­sen­bur­ger Honig und Met her­stellt. Höhe­punkt der Füh­rung war das Holz­bild­hau­er-Ate­lier mit einem aus 80 000 Tei­len bestehen­den “Pha­rao­nen­bett”. Lei­der hat der neue Eigen­tü­mer Dege­wo gro­ße Tei­le des Gelän­des absper­ren las­sen, da Ein­sturz­ge­fahr besteht. Und doch sind die weni­gen Räu­me, die sich besich­ti­gen las­sen, beeindruckend.

Der im ehe­ma­li­gen Was­ser­turm befind­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­ons­raum der Wie­sen­bur­ger und Sym­pa­thi­san­ten, die „Unbe­zahl­Bar“, ist ein veri­ta­bler Under­ground-Treff­punkt der Kunst- und Kulturszene.

Nun gilt es, die­se Viel­falt mit­ten im Wed­ding zu bewah­ren, ohne dass der unver­wech­sel­ba­re Cha­rak­ter die­ses lan­ge Zeit “ver­ges­se­nen Ortes” erhal­ten bleibt. Die  “Wie­sen­bur­ger” brau­chen viel Unter­stüt­zung, auch aus dem Wed­ding, damit dies gelingt.

Mehr Infor­ma­tio­nen: diewiesenburg.de

Eine filmreife Geschichte dieses Ortes

Als im Jahr 1868 die Kauf­manns­gat­tin Ber­ta Hirsch-Neu­mann ein Obdach­lo­sen­asyl besucht, schlägt ihr das Elend offen ent­ge­gen und sie initi­iert die Grün­dung des „Ber­li­ner Asyl Ver­eins“. Pro­mi­nen­te Grün­dungs­mit­glie­der waren der Arzt  Virch­ow, die Indus­tri­el­len Borsig und Bol­le und vie­le mehr. Der Ver­ein ver­an­stal­te­te Bene­fiz­ver­an­stal­tun­gen und fand vie­le wohl­ha­ben­de Spen­der, so dass er das Gelän­de an der Wie­sen­stra­ße kau­fen konn­te. 1896 ent­stand nach einem Jahr Bau­zeit das größ­te und moderns­te Obdach­lo­sen­asyl der Welt – mit eige­ner Strom­ver­sor­gung und  Brun­nen. Schnell nann­te der Volks­mund die­sen Ort ‘die Wie­sen­burg’, eine Ein­rich­tung in der bis zu 700 Män­ner ein kos­ten­lo­ses, kurz­fris­ti­ges Obdach fan­den. Hier spiel­te Reli­gi­on kei­ne Rol­le. Statt­des­sen wur­den in der seu­chen­an­fäl­li­gen Stadt durch moder­ne Bet­ten, das Des­in­fi­zie­ren und Waschen der Klei­dung und die Mög­lich­keit zum Duschen und Baden neue Stan­dards gesetzt. Außer­dem konn­te man hier anonym eine Bett­statt erhal­ten. Jeder Obdach­lo­se bekam eine war­me Mahl­zeit und ein klei­nes Früh­stück. 1907 wur­de ein Bereich für 400 Frau­en bzw. Kin­der geschaf­fen, so dass das Asyl nun 1100 Bet­ten hat­te und pro Jahr bis um die 300.000 Über­nach­tun­gen ver­zeich­nen konnte.

1926 wur­de das Gelän­de an die jüdi­sche Gemein­de ver­pach­tet und 1935 von den Nazis ent­eig­net. Im Krieg wur­den gro­ße Tei­le des Asyls von Brand­bom­ben zer­stört – woh­nungs­lo­se Fami­li­en zogen in das ehe­ma­li­ge Ver­wal­ter­ge­bäu­de, so auch die Nach­fah­ren einer der Stif­ter, die Dum­kows, wel­che bis zum Jahr 2014 die Haus­ver­wal­tung inne hat­ten. Die Fami­lie Dum­kow öff­ne­te die Wie­sen­burg nach und nach für Hand­wer­ker, Künst­ler und Kul­tur­schaf­fen­de jeg­li­cher Couleur.

Schlön­dorff dreh­te hier die Sze­nen der Reichs­kris­tall­nacht für sei­nen oscar­prä­mier­ten Film „Die Blech­trom­mel“. Da das ehe­ma­li­ge Ein­gangs­por­tal des Män­ner­asyls, vom sel­ben Archi­tek­ten erbaut, dem der Dan­zi­ger Syn­ago­ge nach­emp­fun­den war, fand sich hier der per­fek­te Drehort.

Fass­bin­der dreh­te auf der Wie­sen­burg Sze­nen aus „Lil­li Mar­leen“, Ball­mann Sze­nen für sei­ne ZDF-Fal­la­da-Serie „ein Mann will nach oben“, Fil­me wie „Tadel­lö­ser und Wolf“, „Fabi­an“, „Der Gehil­fe“ und „Die Busch­ows“ fan­den hier den per­fek­ten Drehort.

Quel­le: diewiesenburg.de

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

1 Comment

  1. Auch ich habe 8 Jah­re (1979−87) in den Räu­men der Wie­sen­burg gear­bei­tet. Dort war damals eine Metall­gie­ße­rei unter­ge­bracht, mit Büro­räu­men (in denen ich als Büro­kraft tätig war) und den Arbeits­hal­len, wo Metall gegos­sen wur­de und man viel über Sand- und Schleu­der­guss ler­nen konn­te … Frau Dum­kow ist mir in sehr guter Erin­ne­rung geblie­ben, eben­so ihr Mann und ihr Sohn und Schwie­ger­toch­ter, für die ich damals ein Hoch­zeits­ge­dicht schrieb … Dies schrieb zur frdl. Erin­ne­rung Ange­li­ka Baum

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