Wie heißt es so schön: man lernt Dinge erst zu schätzen, wenn man sie nicht mehr hat. So dürfte es vielen – zu Recht – genervten und gestressten S‑Bahn-Fahrgästen gehen, wenn wieder die S‑Bahnstrecke zwischen Gesundbrunnen und Yorckstraße gesperrt wird oder wmal gestreikt wird. Der exakt sechs Kilometer lange Tunnel unter den Straßen von Berlin-Mitte hat bald 80 Jahre auf dem Buckel und steht exemplarisch für die wechselreiche Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert. Es wird Zeit, sich dieses Bauwerk einmal näher anzuschauen.
Vor 80 Jahren eröffnet: Bahnhof Humboldthain
Am 1. Januar 1935 wurde, noch an der Oberfläche, der neue Bahnhof Humboldthain eröffnet. Von dort gelangten die Züge anfangs nur bis zum Stettiner Bahnhof (auf Höhe des heutigen Nordbahnhofs). Der Bahnsteig liegt in einem tiefen Einschnitt zwischen dichter Bebauung und dem Hang des nahen Volksparks Humboldthain. Er wird durch ein achteckiges Zugangsgebäude an der Ecke Wiesenstraße/Hochstraße erschlossen, das im Stil der Neuen Sachlichkeit von Architekt Richard Brademann entworfen wurde. Im Juli 1936, also zu den Olympischen Spielen, wurde dann der erste Bauabschnitt des S‑Bahn-Tunnels bis Unter den Linden (heute: Brandenburger Tor) eröffnet. Die Tunneleinfahrt befindet sich einige hundert Meter hinter dem Bahnhof Humboldthain, nahe der verrosteten Liesenbrücken. Doch erst seit 1939, als der südliche Tunnelabschnitt Unter den Linden – Yorckstraße fertiggestellt war, sind die nördlichen S‑Bahnlinien aus Oranienburg, Hennigsdorf und Bernau mit den südlichen Linien verbunden.
Vor 70 Jahren geflutet: der S‑Bahn-Tunnel
Doch das Jahrhundertbauwerk war schon wenige Jahre später wieder zerstört. Denn nur Stunden vor dem Ende der Kampfhandlungen in Berlin wurde der Tunnel am 2. Mai 1945 geflutet. Unbekannte Täter hatten die Tunneldecke direkt am Landwehrkanal gesprengt, so dass sehr schnell Wasser in die verschiedenen Tunnelsysteme eindringen konnte. Auch die U‑Bahn war davon über einen Verbindungsgang an der Friedrichstraße betroffen. Erst 1947 war der Tunnel wieder für S‑Bahnen befahrbar. Doch durch die Teilung Berlins hielten die West-Berliner S‑Bahnen ab 1961 nicht mehr an den vier unterirdischen S‑Bahnhöfen, die unterhalb des Ostsektors lagen – während die S‑Bahn bis 1984 weiterhin von der (DDR-)Reichsbahn betrieben wurde. Nur an der Friedrichstraße wurde gehalten, wo die Übergangsmöglichkeit zur BVG-U-Bahn-Linie 6 bestehen blieb.
Vor 25 Jahren wieder eröffnet: die stillgelegten Stationen
1990 wurden dann die meisten wegen der Teilung außer Betrieb genommenen Tunnelstationen, aber auch der im Grenzbereich nördlich der Ringbahn liegende Bahnhof Bornholmer Straße wieder eröffnet. Allgemein hält sich die Auffassung, in der NS-Zeit habe es nur eine historisierende, monumentale Architektur gegeben. Ganz im Gegenteil, bei Funktionsbauten wie Flughäfen, Bahnhöfen sowie bei Fabrikgebäuden wie den Osramhöfen setzte man auf die Moderne. Historisierend oder monumental wurde es erst bei repräsentativen Gebäuden. Charakteristisch für die meisten Stationen, die 1935 – 1939 gebaut wurden, ist die Frakturschrift “Tannenberg” für die Bahnhofsnamen, die entweder originalgetreu erhalten ist oder bei der Sanierung imitiert wurde. In der Verteilerhalle des Nordbahnhofs sind ebenfalls einige Hinweisschilder in dieser Schrift erhalten geblieben.
Und heute?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Tunnel erst in den Jahren 1991⁄92 grundsaniert. Für Regional- und Fernbahnen steht seit 2006 ein eigener viergleisiger Tunnel unter dem neuen Hauptbahnhof zur Verfügung. Er verläuft einige hundert Meter westlich vom Nord-Süd-Tunnel und umgeht damit den Bahnhof Friedrichstraße. Im Jahr 2015 war dann die nächste Sanierung des S‑Bahn-Tunnels erforderlich: für 6,4 Millionen Euro waren vier Kilometer Gleis zu erneuern, 19 Weichen auszutauschen, 5,6 Kilometer Starkstromkabel zu verlegen, 2 500 Leuchtstoffröhren zu montieren und eine neue Zugsicherungstechnik zu installieren. Außerdem gibt es jetzt Schienenschmierstellen in besonders engen Kurven – in der Hoffnung, dass das Gequietsche der Züge dadurch leiser wird. In der heutigen Zeit wichtig: für den besseren Handyempfang und die Nutzung durch Smartphones ist jetzt ein leistungsfähigeres LTE-Netz im Tunnel installiert. Nach der Wiedereröffnung dürften wieder 100.000 Menschen am Tag mit den rot-gelben Zügen unter Berlin-Mitte fahren. Der Nord-Süd-Tunnel ist und bleibt ein wichtiger Baustein des S‑Bahnsystems Berlins und stellt vor allem für die Bewohner von Berlin-Gesundbrunnen eine schnelle und bequeme Anbindung an die Innenstadt dar.
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