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Lazarus-Kapelle und Versöhnungskirche

Erinnerungen von Zeitzeugen:
Für 20 Ostpfennige durch den Westen

2005 hatte ich die Gelegenheit, mit betagten Weddingerinnen und Weddingern im Seniorenheim an der Panke zu sprechen. Ihre Erzählungen waren die von Zeitzeugen wider Willen - sie waren dabei, als im Wedding mit dem Mauerbau am 13. August 1961 Geschichte geschrieben wurde. Doch erinnerten sie sich auch an die Zeiten, als die Grenzen noch offen waren.

“Irgend­ein Las­ter muss der Mensch ja haben”, sagt Eva Bitt­ner und zün­det sich eine Ziga­ret­te nach der ande­ren an. Ihre Augen leuch­ten auf, als sie beginnt, aus ihrem Leben zu erzäh­len. Die 69-jäh­ri­ge wohnt seit 16 Jah­ren im “Senio­ren­heim an der Pan­ke” in der Kolo­nie­stra­ße. Doch in den Sol­di­ner Kiez hat es sie erst jetzt, durch das Senio­ren­heim, ver­schla­gen. Auf­ge­wach­sen ist sie im Gebiet rund um die Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße. “Pan­ken­was­ser ist sau­be­res Was­ser.” An die­sen Spruch erin­nert sich Eva Bitt­ner noch. Dies nach­zu­voll­zie­hen fällt heu­te schwer. Doch damals, so die 69-jäh­ri­ge, war die Pan­ke ein idea­ler Kin­der­spiel­platz. “Frü­her war alles bes­ser”, sagt sie über­zeugt. Arbeits­plät­ze gab es damals noch mehr im Sol­di­ner Kiez. Nach dem Krieg, so erin­nert sich Peter Mueg­ge, waren vie­le Gewer­be­be­trie­be in der Sol­di­ner Stra­ße ansäs­sig. Der 62-jäh­ri­ge hat 19 Jah­re dort als Schmied gearbeitet.

Hel­mut Lied­ke zog 1959 in die Kolo­nie­stra­ße. Davor pen­del­te er als Grenz­gän­ger oft von Ost- nach West-Ber­lin. Span­nend war für den 65-jäh­ri­gen beson­ders die Zeit vor dem Mau­er­bau: Drei Schich­ten hat er damals im Loko­mo­tiv­werk Hen­nigs­dorf gear­bei­tet. Das Geld, was er ver­dien­te, hat er kapi­ta­li­siert: “Mein Ost­geld habe ich zum Kurs 8:1 auf der Stra­ße in West­geld getauscht”, erzählt er. Davon konn­te er sich sei­ne gro­ßen Lei­den­schaf­ten leis­ten: “West­kla­mot­ten”, wie er sagt, und vor allem das Kino. Rund um die Bad­stra­ße gab es in den 50er Jah­ren vie­le Filmtheater.

Nicht nur für Kino­fans wie Hel­mut Lied­ke war der Bahn­hof Gesund­brun­nen güns­tig gele­gen. Vie­le Ost-Ber­li­ner erstan­den auf dem aus­ge­dehn­ten Stra­ßen­markt nur im Wes­ten erhält­li­che Waren – und waren danach mit der S‑Bahn schnell wie­der zurück im Osten. Vor­sicht war jedoch gebo­ten, erin­nert sich Eva Bitt­ner. “In der U‑Bahn waren Zöll­ner unter­wegs, die die Leu­te filz­ten”, erzählt sie. Auch sie hat­te immer zwei Wäh­run­gen in der Tasche. Ihr Mann, so erin­nert sie sich, hat­te als Haus­wart wenig ver­dient. Sie muss­ten spa­ren. “Wir sind im Osten, U‑Bahn Ber­nau­er, ein­ge­stie­gen und für 20 Pfen­ni­ge Ost­geld bil­lig durch den Wes­ten gefah­ren”, sagt sie. Aber der Wohn­sitz an der Gren­ze hat­te auch ande­re Vor­tei­le: “Die Schrip­pen aus dem Osten haben mir bes­ser geschmeckt”, erzählt Bittner.

Eva Bitt­ner hat in der Zeit des Mau­er­baus in der Ber­nau­er Stra­ße gelebt. Die ande­re Stra­ßen­sei­te war der Osten. “Die Haus­be­woh­ner tra­ten in den Wes­ten, wenn sie aus der Haus­tür raus­gin­gen” erzählt sie fast bei­läu­fig. In den Tagen des Mau­er­baus sah Bitt­ner ihre Nach­barn, wie sie sich mit Bett­la­ken aus dem Fens­ter abseil­ten. Und im Haus ihres Bäckers um die Ecke lag der berühm­te Flucht­tun­nel, der 57 Men­schen den Weg in den Wes­ten bahnte.

Ihre Nach­barn, so erzählt Bitt­ner, kann­te sie ja vom Ein­kau­fen. “Man kann­te sich und hat­te immer ein per­sön­li­ches Wort für­ein­an­der übrig”, sagt sie. In den Markt­hal­len, bei den Flei­schern, Bäckern, in den Sei­fen­ge­schäf­ten in und um den Kiez hat jeder ein­ge­kauft. Doch nicht nur Lebens­mit­tel wur­den hier umge­schla­gen. Nach der Ber­lin-Blo­cka­de 1948 lager­te die Senats­koh­len­re­ser­ve in der Kolo­nie­stra­ße. “Die Koh­len haben sich meter­hoch gesta­pelt”, erin­nert sich Hel­mut Lied­ke. Die Blo­cka­de haben Eva Bitt­ner und Peter Mueg­ge auch noch vor Augen: “Brot in die Pfan­ne, Zucker und Mucke­fuck drauf. Das haben wir damals oft geges­sen. Wir haben sogar aus den Kar­tof­fel­scha­len Puf­fer gemacht.”

Doch auch nach der Blo­cka­de ging es Eva Bitt­ners allein­er­zie­hen­der Mut­ter nicht viel bes­ser: Sie war Putz­frau an der Oslo­er Stra­ße, hat­te aber oft auch kei­ne Arbeit. “Wir haben kei­nen Pfen­nig Koh­len­geld vom Arbeits­amt gekriegt” erin­nert sich Bitt­ner. “Da haben wir fünf Stun­den lang auf dem Sozi­al­amt geses­sen, bis wir aus dem Son­der­fonds Koh­len bekom­men haben.” Sozi­al­amt und lan­ges War­ten – das ken­nen die Men­schen, die heu­te im Kiez leben, auch. 

Frü­her war viel­leicht doch nicht alles bes­ser – oder zumin­dest nicht so viel anders.

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

3 Comments Leave a Reply

  1. Lie­be Freunde,
    ger­ne und auf­merk­sam lese ich Ihre Bei­trä­ge, habe ich doch lan­ge im ehe­ma­li­gen Wed­ding gewohnt und (als Pfar­rer) gearbeitet.
    In dem obi­gen Arti­kel ist Ihnen offen­bar bei der Erzäh­lung über Herrn Lied­ke etwas durch­ein­an­der gera­ten. Die Daten kön­nen so nicht stimmen.
    Er kann nicht als heu­te 65jähriger schon vor dem Mau­er­bau im Schicht­dienst in Hen­nigs­dorf gear­bei­tet haben!

    Mit freund­li­chen Grüßen
    Hans Zimmermann

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