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Radtour: Erinnern, wo es nichts mehr zu sehen gibt

11. März 2013
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Gut 30 Teil­neh­mer trot­zen der Eises­käl­te am 9. März, um an einer fach­kun­dig geführ­ten Rad­tour zu den ver­ges­se­nen Orten zer­stör­ter Viel­falt im Wed­ding teil­zu­neh­men. Dabei führt der Kul­tur­ma­na­ger und lei­den­schaft­li­che Stadt­füh­rer Eber­hard Elfert, der die Tour orga­ni­sier­te, an Orte, an denen Ver­gan­gen­heit buch­stäb­lich ver­gra­ben wor­den ist. Auf dem Plan ste­hen auch „ritua­li­siert erstarr­te“ Gedenk­or­te aus der Zeit des Kal­ten Krieges.

Radtour 9. März 2013“Es geht nicht um die his­to­ri­schen Daten und Fak­ten, son­dern dar­um, die Orte zu sehen und die geschicht­li­chen Brü­che”, spru­delt es aus Eber­hard Elfert, der die Tour lei­tet, her­aus. So schnell kann man nicht mit­schrei­ben, wie Elfert drauf­los­re­det. Ihm schwebt ein inter­ak­ti­ver Plan des kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­ses vor, den er mit den Bewoh­nern vor Ort erstel­len möch­te, eine Art Initia­ti­ve, die sich mit Geschich­te befasst. Dabei soll­te auch das The­ma Migra­ti­on mit ein­ge­schlos­sen werden.

Aber zunächst zurück zur Geschich­te. Im Wed­ding tref­fen sehr unter­schied­li­che Kul­tu­ren auf­ein­an­der. Dabei, so erklärt Elfert, gin­ge das Den­ken über die Gren­zen der Kieze und Com­mu­ni­ties ver­lo­ren. Was wir heu­te noch sehen kön­nen, ist eine unzu­sam­men­hän­gen­de und wider­sprüch­li­che Ansamm­lung von Erin­ne­rung, die drin­gend einer Über­ar­bei­tung bedarf. 

“Aus mei­ner Sicht wiegt schwer, dass sich die Ver­wal­tung, Poli­tik und Kir­che aus dem öffent­li­chen Raum zurück­ge­zo­gen hat”, erzählt Elfert den inter­es­sier­ten Teil­neh­mern. Erin­ne­rungs­kul­tur blei­be dadurch rudi­men­tär, ent­spre­chend der Situa­ti­on seit den 1980er Jah­ren. Was nicht reflek­tiert wür­de, sei die Poli­tik mit der Erin­ne­rung, die in der Zeit des Kal­ten Kriegs betrie­ben wur­de. Der Wed­ding, in dem sich die Men­schen in beson­de­rer Form auf die Arbei­ter­be­we­gung bezie­hen, hät­te aus einem Wunsch nach Reprä­sen­ta­ti­on gegen­über „Ost-Ber­lin“ sei­ne eige­ne Geschich­te zum Teil sys­te­ma­tisch ent­sorgt. Auch bei denen, die für die Bear­bei­tung der Geschich­te bezahlt wür­den, stän­de es nicht ganz so gut. Geschich­te ver­krie­che sich wie hin­ter Mau­ern, sie sei nicht bei den Menschen.

An der Prin­zen­al­lee 33 in Gesund­brun­nen beginnt die Tour. “Die ört­li­che SPD hält im Saal vom Glas­kas­ten regel­mä­ßig ihre Abtei­lungs­sit­zung ab”, erläu­tert Elfert. “Aber nicht ein­mal eine Gedenk­ta­fel erin­nert an die Sozi­al­de­mo­kra­ten und Kom­mu­nis­ten, die in einem wil­den KZ 1933 im Kel­ler des glei­chen Gebäu­des gefol­tert wur­den.” Assi­bi War­ten­berg, selbst SPD-Mit­glied und Betrei­be­rin des afri­ka­ni­schen Restau­rants, steckt den Kopf aus der Tür. Sie freut sich über das gro­ße Inter­es­se der Wed­din­ger an der jün­ge­ren Geschich­te: “Vie­les ist gut zu wis­sen”, fin­det sie, und sie meint damit, dass es auch wich­tig ist, die Hin­ter­grün­de zu ken­nen. Sie wür­de sich nun auch für eine Gedenk­ta­fel am Gebäu­de einsetzen.
Radtour Friedhof SeestraßeImmer wie­der schlägt Eber­hard Elfert den Bogen von der Macht­er­grei­fung 1933 über das Kriegs­en­de und die Ereig­nis­se des Kal­ten Krie­ges bis in die Gegen­wart. Zum Bei­spiel bei der Gedenk­stät­te für die Opfer des 17. Juni 1953, die sich auf dem Fried­hof See­stra­ße befin­det. Wer die Skulp­tur besich­ti­gen will, die sich aus ihren Fes­seln und damit der Unfrei­heit befreit, kommt – ohne es recht zu bemer­ken – an schlich­ten Mas­sen­grä­bern aus der NS-Zeit vor­bei.
 Allen­falls das Todes­da­tum gibt einen Anhalts­punkt für den geschicht­li­chen Kon­text, hin­ge­gen kei­ne Erklä­rungs­ta­fel.  Nichts ver­weist dar­auf, dass es sich hier um Men­schen han­delt, die der Eutha­na­sie zum Opfer fie­len oder als poli­ti­sche Gefan­ge­ne in der Haft­an­stalt Plöt­zen­see ermor­det wur­den. An das Auf­be­geh­ren im Jahr 1953 in der DDR erin­nern hin­ge­gen, über­le­bens­groß in Sze­ne gesetzt, 15 zufäl­lig in Wed­din­ger Kran­ken­häu­sern ver­stor­be­ne Opfer des Auf­stands. Dies alles im Jahr, in dem die Stadt an die „Zer­stör­te Viel­falt“ erin­nern möchte?

Unbe­ab­sich­tig­te, gedan­ken­lo­se, oft absur­de Zusam­men­hän­ge in der Gedenk­kul­tur sind etwas, was den Tou­ren­lei­ter Elfert sicht­lich ärgert. So erläu­tert er, das vor dem Alten Rat­haus Wed­ding nach dem Zwei­ten Welt­krieg ein rie­si­ges Wand­bild mit Picas­sos “Guer­ni­ca”- Gemäl­de vom Archi­tek­ten Borrn­emann vor­ge­se­hen war. Aus dem gro­ßen Ent­wurf wur­de ein schlich­ter Stein, der grob ver­all­ge­mei­nernd an alle Opfer von Tyran­nei und Gewalt­herr­schaft erin­nert. Eine Sta­ti­on bil­de­ten auch die eins­ti­gen Pha­rus­sä­le, einen für die Geschich­te der Arbei­ter­be­we­gung im Wed­ding, ins­be­son­de­re für die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei bedeut­sa­men Ort. Heu­te steht hier der schli­che Nach­kriegs­bau der  AOK. Zur erin­nern sei hier viel, z.B. an die Jugend­li­chen, die nach Swing-Musik tanz­ten, ihr ein­fa­cher, aber auch höchst gefähr­li­cher Pro­test gegen das NS-Regime.

An wen die Sitz­mö­bel gemah­nen, die den Schrift­zug LEOPOLD auf dem Leo­pold­platz bil­den, näm­lich an den preu­ßi­schen Mili­tär Leo­pold I. von Anhalt-Des­sau, dar­an haben weder Pla­ner, Bewoh­ner und noch das Stadt­pla­nungs­amt bei der Neu­ge­stal­tung des Plat­zes gedacht. Das Ein­ge­ben des Wor­tes “Leo­pold” in den Rech­ner und ein wenig Nach­den­ken hät­te da viel bewir­ken kön­nen, so Elfert. “Das ist typisch für die Erin­ne­rungs­kul­tur, die einer drin­gen­den Neu­ord­nung bedarf”, fin­det er. Ange­sichts der Stra­ßen­na­men um den Platz, die unhin­ter­fragt an die Schlacht­fel­der des Spa­ni­schen Erb­fol­ge­krie­ges erin­nern, erscheint die Dis­kus­si­on um die Stra­ßen­na­men im Afri­ka­ni­schen Vier­tel wenig überzeugend.

Eber­hard Elfert war vie­len Geschichts- und Erin­ne­rungs­pro­jek­ten direkt oder indi­rekt betei­ligt. So mode­rier­te er in wei­ten Stre­cken den Umgang mit den Denk­ma­len der DDR im Ost­teil Ber­lins, berei­te­te die Wett­be­wer­be für das Denk­mal des 17. Juni vor dem heu­ti­gen Finanz­mi­nis­te­ri­um vor und enga­gier­te sich bei der Mar­kie­rung des Mau­er­ver­lau­fes. Dabei ent­stan­den zahl­rei­che Ver­öf­fent­li­chung zum Thema.

Bei­trä­ge zu den Ver­ges­se­nen Orten: Pha­rus­sä­le, Tele­fun­ken­haus, Leo­pold­platz

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

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