Wohl jeder und jede aus unserer Leserschaft dürfte schon einmal von Postbote Kalle persönlich am Theatereingang per Handschlag begrüßt worden sein. Dieses Ritual hat sich der Gründer des Prime Time Theaters sogar nach 20 Jahren noch bewahrt. Egal wie man zu diesem originellen Volkstheater steht, eines ist sicher: Die Leistung der Theatergründer und Ensemblemitglieder für den Wedding kann man gar nicht hoch genug einschätzen.
Theatergründer Kalle… äh… Oliver Tautorat. Foto: Inka Thaysen
Wenn man 2004, so wie ich, im Soldiner Kiez wohnte, kam man an einem beleuchteten Ladenlokal mit einem johlenden Publikum in der Freienwalder Straße 30 nicht vorbei. Damals standen viele Gewerbeeinheiten und Wohnungen leer. Der größte Vermieter, die Degewo, lockte Studierende mit niedrigen Mieten an, damit die Lichter in den Häusern nicht ganz ausgingen. Und in die Ladenlokale siedelte sie gezielt Künstler:innen an – die Kolonie Wedding geht auch auf diese Initiative zurück. Und in diesem kleinen Ladenlokal fing eben 2004 auch das Projekt PrimeTime-Theater an. Das war nicht irgendein Off-Theater, sondern etwas fundamental Neues. Eine Seifenoper, wie sie damals im Fernsehen aufgekommen waren, nur als Theaterstück.
Als ich den Namen “Gutes Wedding, schlechtes Wedding” (GWSW) unter Bezug auf die RTL-Soap GZSZ zum ersten Mal hörte, sorgte das bei mir für ein Schmunzeln. Denn wenn der Wedding in den Augen der meisten Berliner etwas war, dann war es “schlecht”. Doch die Titelmelodie des Stücks schmetterte selbstbewusst: “Mitte is Schitte, Prenzlberg is Petting, Real Sex is Only Wedding”. Das klang damals unerhört. Und mit diesem Mut und dem Spaß am Durch-den-Kakao-Ziehen von Stereotypen prägte das Theater den Sound zu dem Stadtteil, der zunehmend als Alternative zu den gentrifizierten In-Bezirken entdeckt wurde. Plötzlich verbrachten Leute den Abend im Wedding, nur um sich einmal königlich zu amüsieren. Wann hatte es das vorher gegeben?
Genialer Nebeneffekt der unendlichen GWSW-Geschichte: Die Prime-Time-Theater-süchtigen Zuschauer:innen kommen immer wieder, um den Fortgang der Handlung mitzuverfolgen – inzwischen in 130 Folgen. Nichtsdestotrotz kann auch ein Neuling in jeder Folge mit einsteigen – allzu viel Tiefgang muss Publikum nicht erwarten, eher viele Lacher. Ein Teammitglied des Weddingweisers wohnte damals in dem Haus und kann sich noch daran erinnern, wie klein die Erfolgsgeschichte angefangen hat – nur 35 Leute passten in das Ladenlokal. Doch was die beiden Schauspieler Constanze Behrends und Oliver Tautorat, damals ein Paar, im Wedding begonnen haben, traf den Nerv der Zeit. Drei Mal zog das Theater im Kiez um und wurde immer größer und professioneller, bis es an der Ecke Burgsdorfstraße und Müllerstraße sein endgültiges Domizil gefunden hatte. Aus der Zwei-Personen-Show wurde ein richtiges Ensemble und neben der Soap GWSW hat sich das Theater auf die Adaption von bekannten Stoffen aus dem Wedding-Universum spezialisiert. Zwar ist Constanze Behrends nicht mehr von der Partie, aber dem Erfolg des Konzepts tat das keinen Abbruch.
Von Anfang an dabei: Oliver Tautorat und sein Alter Ego Kalle. Foto: Inka Thaysen
Was das Theater geleistet hat
Für mich hat das Prime Time Theater in 20 Jahren vor allem zwei große Leistungen vollbracht: Zum einen hat es Leute ins Theater gebracht, die sonst mit den Brettern, die die Welt bedeuten, nichts anfangen können. Dem Humor, den schrägen Figuren und der direkten Verbindung, die es so nur bei Live-Bühnen gibt, kann man sich eben kaum entziehen.
Zum anderen haben Postbote Kalle & Co. viel für den Wedding getan. Das negative Image des Stadtteils wurde durch überspitzt, aber liebevoll gezeichnete Charaktere ins Gegenteil verkehrt. Menschen, die wie manch ein Prenzlberger auf den Wedding herabsehen, werden ebenfalls mit viel Humor ein bisschen veralbert, ohne dass es gleich ins Gehässige abgleitet. Die Leistung des Theaterensembles besteht darin, dass es den Berlinern den Spiegel vorhält, sich über ihre Kiez-Klischees lustig macht und trotzdem alle darüber (und über sich selbst) lachen können. Und daran zeigt sich, dass den Wedding – neben seinen unbestreitbaren sozialen Problemen, einer sehr diversen und bunten Stadtgesellschaft und manchmal sehr fragwürdigen menschlichen Begegnungen – doch vor allem eines auszeichnet: Ganz viel Herz. Happy Birthday!
Probenfoto aus der Jubiläumsfolge. Foto: Raphael Howein
Die Jubiläumsfolge “In einem Wedding vor unserer Zeit” (Teil 1) läuft am 19. Januar an.
Tickets und Termine unter primetimetheater.de