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Wedding-Jahresrückblick Mai 2014: Berlin nicht mehr hip – der Wedding trägt Trauer

16. Dezember 2014

Alle zwei Tage öff­net sich hier im Wed­ding­wei­ser ein sati­risch-lite­ra­ri­sches Monats­tür­chen in das ver­gan­ge­ne Jahr mit der Wed­din­ger Lese­büh­ne Brau­se­boys. Alle Tex­te wer­den nach Erschei­nen auf der Sei­te “Wed­ding­rück­blick” gesam­melt.

MAI 2014 

Ber­lin nicht mehr hip – der Wed­ding trägt Trau­er (von Hei­ko Werning)

Schluss, aus, vor­bei. Ber­lin ist nicht mehr hip, hat sei­nen Sta­tus als cools­te Stadt der Welt ver­lo­ren. Das haben die New York Times und der Rol­ling Stones so fest­ge­stellt, und seit­her macht der depri­mie­ren­de Befund die Run­de und wird auch in der Ber­li­ner Pres­se vehe­ment dis­ku­tiert. Das Berg­hain ist nicht mehr der ange­sag­tes­te Club der Welt, die Tür­ste­her sind nicht streng genug, zu vie­le Tou­ris­ten kom­men her­ein, über­haupt: zu vie­le Tou­ris­ten. Die Nach­richt trifft die Ber­li­ner ins Mark. Wie konn­te es so weit kom­men? Wir haben uns umge­se­hen in dem Bezirk, der wie kaum ein ande­rer für Hip­ness, jun­ge Urba­ni­tät und inter­na­tio­na­les Agen­da­set­ting steht: im Wedding.

Zunächst deu­tet für den unge­üb­ten Beob­ach­ter nichts dar­auf hin, dass dies hier nicht mehr der abso­lu­te place to be sein soll­te: Feins­ter Retro-Stil an allen Ecken. Schi­cke In-Bars mit Namen wie Zum Süf­fel, Bier­tem­pel oder See-Tank locken das amü­sier­wil­li­ge jun­ge Publi­kum mit lie­be­voll her­ge­rich­te­tem Eck­knei­pen-Look, der täu­schend echt wirkt, als sei er aus den Sech­zi­ger­jah­ren. An gewal­ti­gen, höl­zern ver­tä­fel­ten Tre­sen sit­zen tren­dy Typen in Holz­fäl­ler- und Fla­nell­hem­den. Hier wer­den Run­den mit hip­pen Sze­ne-Drinks wie Fut­schi oder Jäger­meis­ter geschmis­sen, wäh­rend Bier aus coo­len loka­len Mikro­braue­rei­en in Strö­men fließt (Schult­heiss, Ber­li­ner Kindl, Rix­dor­fer Faßbrause).
Erst bei genaue­rem Hin­se­hen schlei­chen sich leich­te Zwei­fel ein. Wir­ken die Trend­scouts hier nicht doch ein wenig sehr gereift, um nicht zu sagen: geal­tert? Hat die über­all auf den Stra­ßen wüst vor sich hin zetern­de Crowd über­haupt Head­sets dabei – oder sind das ein­fach nur ganz nor­mal Ver­rück­te? Und bei man­chem Voll­bart­trä­ger ist man sich bei nähe­rer Betrach­tung trotz per­fek­tem old fashio­ned Sty­ling nicht ganz sicher, ob das wirk­lich ein Hips­ter ist oder nicht doch nur ein ganz pro­fa­ner Isla­mist. Selbst die Stoff­beu­tel, die jeder hier mit sich her­um­trägt, knis­tern etwas auf­dring­lich, glän­zen selt­sam und wei­sen den sze­neun­ty­pi­schen Auf­druck „Lidl“ auf. Sind die Kla­mot­ten in den Bou­ti­quen gar kein Retro-Style, son­dern Retro, und sind es am Ende auch gar kei­ne Bou­ti­quen, son­dern An- und Ver­käu­fe oder Ein-Euro-Shops?
Und die legen­dä­re Club-Sze­ne? Natür­lich, die Fla­nier­mei­len blü­hen im Glanz der ange­sag­ten Läden von Bet2Win bis Super Slots Wed­ding. Aber trügt der schö­ne, blin­ken­de Schein? „Na ja, frü­her war hier schon irgend­wie mehr los“, sagt Kut­tel vom Leo­pold­platz, „da hat­te der Imbiss zur Mit­tel­pro­me­na­de nachts noch bis drei auf. Jetzt ist da immer schon um zehn Schluss.“ Auch sein Kum­pel Kul­le ist nach­denk­lich: „Der Dro­gen­kon­sum­raum am Leo­pold­platz, da las­sen die wirk­lich jeden rein. Dabei ist die Tür so wich­tig! Doch irgend­wann ging’s da ein­fach nur noch ums Geschäft. Aber man muss schon schau­en, dass das Publi­kum auch wirk­lich zum Ort passt!“ „Irgend­wie ist auch das Beson­de­re ver­lo­ren gegan­gen“, sekun­diert Kut­tel, „ich mei­ne, hier sieht’s doch inzwi­schen über­all aus wie in Neu­kölln!“ „New York“, ver­bes­sert Kul­le, „wie in New York. Aber stimmt schon: McDonald’s, McFit, Dun­kin‘ Donuts, Queen Nail Stu­dio, Cof­fee to go. Ist doch prak­tisch wie Brook­lyn.“ „Und dann noch die Hos­tels!“, ruft Kut­tel, „Ich mei­ne, das ist natür­lich zuerst voll cool für die Tou­ris­ten, so mit Zim­mern und Duschen und so. Aber irgend­wann mer­ken die ein­fach: Hey, da trifft man ja nur Tou­ris­ten, da im Hos­tel. Das ist dann natür­lich nicht mehr inter­es­sant. Dann hau­en die halt alle wie­der ab.“
Aber etwas Gutes hat die Ent­wick­lung, fin­det Kul­le: „Der vege­ta­ri­sche Imbiss in der Mül­lerstra­ße hat jetzt Bou­let­te im Ange­bot, mit rich­tig schar­fen Zwie­beln.“ Es wird schon alles wie­der werden.


Vom 11.12. bis 10.1. des neu­en Jah­res prä­sen­tie­ren die Her­ren Paul Bokow­ski, Robert Res­cue, Vol­ker Sur­mann, Frank Sor­ge und Hei­ko Wer­ning außer­dem an über 20 Ter­mi­nen ihre tra­di­tio­nel­le Jah­res­bi­lanz “Auf Nim­mer­wie­der­se­hen 2014″ im Come­dy­club Kooka­bur­ra (Schön­hau­ser Allee 184). Schau­en Sie auch dort hin­ein und hel­fen den Wed­din­ger Vor­le­sern dabei, den Prenz­lau­er Berg zu “degen­tri­fi­zie­ren”.

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