Das Jahr 2040. 20 Jahre sind vergangen, seit Melissa, Rias beste Freundin, spurlos verschwunden ist. Ria kehrt an diesem schmerzerfüllten Jahrestag wieder zurück an den Ort, wo Melissa das letzte Mal gesehen wurde – und trifft sie dort plötzlich wieder.
Eine Fortsetzungsgeschichte von Nethais Sandt und Ruben Faust
2- Hoffnung ist ein brutales Konzept
“Wie oft hattet ihr im Leben schon einmal ein Déjà-Vu? Wie oft seid ihr stehen geblieben und habt euch an etwas erinnert, von dem ihr glaubt, es schon mal erlebt zu haben? Wie oft hattet ihr dieses beunruhigende Gefühl, als würde euch etwas Bedeutendes fehlen? Eine letzte Frage: Wie oft habt ihr euch in der Masse an Menschen umgedreht und nach einer Person gesucht, die es nicht gibt? Wie hat sich das angefühlt?”
Ich schließe meine Augen, meine Finger über der Tastatur. Mein Laptop summt leise vor sich hin. Mein Herz klopft im Rhythmus der Wanduhr hinter mir. Ansonsten herrscht absolute Stille. Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder die Menschenmassen vor mir. Gehetzte Blicke, umklammerte Taschen, penibel gesäuberte Schuhe. Hupende Autos, rote Ampeln, ein kleiner Junge mit seinem Hund. In all dem Wirwarr platinblondes Haar, ein Buch mit blauem Einband in der Hand. Ein Mädchen. Wie oft habe ich jetzt schon nach ihr Aussschau gehalten? Wieviele Mädchen habe ich hinten an der Schulter gepackt in der Hoffnung, meine beste Freundin wiederzusehen? Zu oft, zu viele. Es schmerzt noch immer.
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Melissa und ich uns das Tattoo haben stechen lassen. So lange ist es her, dass Melissa verschwunden ist. Es muss alles innerhalb weniger Sekunden passiert sein. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem ich aus dem Laden gekommen bin, glücklich über meinen neuen Thriller. Wie verwirrt ich war, dass meine beste Freundin nicht mehr vor dem Laden steht und auf mich wartet. Schon damals hat mich ein beunruhigendes Gefühl beschlichen. Aber sie wird schon nach Hause gegangen sein, so mein Gedanke. Vielleicht war ihr auf einmal wieder schlecht und sie muss sich ausruhen…, dachte ich, während ich schnellen Schrittes Richtung Zuhause lief. Vielleicht…
Ich seufze und klappe den Laptop zu. Es hat zwei Wochen gedauert, bis ich wirklich realisiert habe, dass meine beste Freundin verschwunden ist. Die ganzen Vermisstenanzeigen, die Polizei, die vielen Tränen. Fünf Jahre später: Die Todeserklärung. Ich weiß nicht, ob ich jemals wirklich akzeptieren werde, dass ein Mensch so plötzlich aus meinem Leben treten kann. So brutal. Ohne eine einzige Erklärung. Ohne Beweise. Ohne Indiz auf einen Unfall. Sie kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben?
Es klopft. Anni steckt den Kopf zur Tür herein. Als sie meinen Gesichtsausdruck sieht, kommt sie langsam näher und nimmt mich in den Arm. “Ich habe dir ein paar Brote geschmiert”, flüstert sie. Ich vergrabe meinen Kopf in ihrer Halsbeuge und atme den unverwechselbaren Geruch von Lavendel ein. “Das klingt so als wärst du meine Mutter”, murmele ich. Anni lacht kurz auf. “So fühle ich mich auch langsam.” Ich öffne den Mund und will was sagen, aber sie unterbricht mich. “Ich weiß”, sagt sie, “Es ist ihr Todestag. Du brauchst dich nicht entschuldigen.” Und damit ist alles gesagt. Sie fährt mir ein letztes Mal kurz durchs Haar, wendet sich ab und geht zur Tür. “Ich würde gleich einkaufen gehen”, sagt sie in einem geschäftsmäßigem Ton. “Jonathan braucht neue Stifte für die Schule. Soll ich dir auch etwas mitbringen?”
Ich schüttle den Kopf, woraufhin sie die Tür hinter sich schließt. Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, in der ich nur wieder auf den Laptop starre, dann stehe ich auf und öffne die Tür. “Danke für die Brote!”, rufe ich ihr hinterher. “Ich liebe dich. Das weißt du doch, oder?”
Und Anni lacht.
Es ist ein schöner, aber kalter Tag. Die Sonne scheint und ich versuche, nicht gleich wieder eine Verbindung zu dem Tag damals herzustellen. Meine Therapeutin meint, dass das aufhören muss. Dass ich nie über Melissa, oder wie sie es formuliert, über mein Trauma, hinwegkommen werde, wenn ich jederzeit alles immer wieder mit Melissa verbinde. “Es ist ein langer, schwieriger Prozess”, murmele ich gehässig vor mich hin. “Aber irgendwann wirst du es geschafft haben. Irgendwann wirst du eines Tages aufwachen und keine einzige Sekunde mehr an Melissa denken.” Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das überhaupt will. Etwas in mir hofft immer noch darauf, dass Melissa eines Tages zurückkehrt. Aus keinem geringerem Grund lebe ich noch imWedding. Ich bin nie weggezogen, lebe immer noch in derselben Wohnung, die wir zusammen gekauft haben. Es ist nicht gut für meine Psyche, das weiß ich selbst. Aber der Dickkopf in mir bleibt stur.
Ich kicke einen kleinen Kieselstein weg. Wenige Meter entfernt befindet sich der Buchladen. Geschlossen. Die Augen auf den Boden gerichtet, beschleunige ich meinen Schritt und halte solange die Luft an, bis ich an ihm vorbeigelaufen bin. Hinter mir werden aus irgendeinem Grund Stimmen laut, aber ich schenke dem wenig Beachtung. Wahrscheinlich hat jemand etwas fallen gelassen und die Menge an hilfsbereiten Menschen sieht das als ihre Aufgabe, etwas Gutes zu tun. Jeden Tag eine gute Tat und so. Was ist meine gute Tat für heute? Dass ich an dem Todestag meiner besten Freundin zu dem Ort zurückkehre, an dem ich sie das letzte Mal gesehen habe?
Ich schnaube. Was bin ich doch für ein Jammerlappen. Aber Hoffnung ist ein brutales Konzept. Selbst wenn der Kopf die Fakten kennt, selbst wenn die Logik gegen alles spricht, so bleibt doch immer dieser kleine Funken Hoffnung, der still in der hintersten Kammer des Herzens lodert und einen Stück für Stück verbrennt -
“Ria!”
Ruckartig bleibe ich stehen. Ria? Ja, so heiße ich, aber bin ich auch damit gemeint?
“Die junge Lady hier fragt nach jemanden namens Ria.”, ruft eine männliche Stimme abermals. “Rote Haare, mittelgroß, blasses Gesicht? Ist hier jemand namens Ria?”
Langsam drehe ich mich um. Direkt vor dem Bücherladen hat sich eine Traube Menschen versammelt. Es ist nicht ganz erkennbar, was sich im Zentrum befindet, jedoch bahnt sich in mir eine Vorahnung an. Mein Hals wird auf einmal rau, meine Beine zittern. Es ist mir noch nie so schwer gefallen, den Mund aufzumachen. “Ja.”, krächze ich. “Ich bin Ria.” Die Menschenmasse reagiert nicht. Natürlich. Ausgerechnet jetzt versagt meine Stimme. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus und rufe dann: “Hier! Ich bin Ria.” er Mann, dem mutmaßlich die Stimme gehört, dreht sich zu mir um. Skeptisch betrachtet er mich von Kopf bis Fuß, dann zuckt er mit den Schultern und tritt einen Schritt beiseite. Dadurch erhalte ich einen einwandfreien Blick auf … Mein Herz stoppt. Ich habe das Gefühl, einen Herzinfarkt zu erleben. Man gebe meinem Herzen Sauerstoff und Blut, damit es weiter pumpt. Ein paar Meter von mir entfernt liegt eine junge Frau. Ihre kurzen, glatte Haare leuchten weiß im Sonnenschein auf. Sie hat sich auf ihren Ellbogen gestützt und hält sich den Kopf, als würde sie starke Kopfschmerzen haben und als sie den Kopf zu mir dreht, kann ich eine rote Platzwunde an ihrer Stirn entdecken. Ihre Augen sind geweitet. Ihre Lippen formen meinen Namen.
Der kleine Funken Hoffnung in meiner hinteren Herzkammer flammt auf und verbrennt mich. Mir wird so heiß, dass jede einzelne Zelle in meine Körper aufschreit. Meine Beine, die eben nur gezittert haben, bestehen aus Wackelpudding. Ich will wegrennen. Ich will schreien. Ich will weinen.
Stattdessen falle ich auf meine Knie. Sämtliche Kraft hat meinen Körper verlassen. Starke Kopfschmerzen pochen hinter meiner Stirn, als ich das Gesehene zu verarbeiten versuche. Das kann nicht sein, rufen meine Gedanken. Ich habe es euch doch allen gesagt! ruft mein Herz.
Und in all dem Chaos, der in mir wütet, kann ich mir selbst kaum glauben, als der Name “Melissa?” über meine Lippen kommt.
Fortsetzung folgt!
Alle Figuren und Namen sind rein fiktional und jede Übereinstimmung mit der Realität ist nur zufällig.
Wedding:2040 ist eine Weddingweiser-Textreihe von Ruben Faust und Nethais Sandt. Sie wird immer dienstags und freitags weitergeführt.