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Ein Leben als Fremde: Walli Nagels Erinnerungen

19. Dezember 2018
Walli Nagel
Cover des zwei­ten Ban­des der Rei­he Wed­ding-Bücher. Cover: Wal­ter Frey Verlag

19.12.2018: Als Wal­li Nagel 1925, frisch ver­hei­ra­tet mit dem berühm­ten Maler Otto Nagel, aus der Sowjet­uni­on in den Wed­ding kam, war “ich etwas Neu­es, noch nie zuvor Gese­he­nes”. Ihre Erin­ne­run­gen beschrei­ben ein Leben als Frem­de in der Frem­de. Der Rück­blick auf ihr Leben (erst­mals erschie­nen 1981) heißt “Das darfst du nicht”. Es ist nun im Wal­ter Frey Ver­lag in der Rei­he “Wed­din­ger Bücher” neu herausgekommen. 

Wal­li Nagel hat als Kind in die erschre­cken­den Augen von Ras­pu­tin geblickt, hat Lenins Man­tel (mit Samt­kra­gen) eigen­hän­dig berührt, den Frau­en­schwarm Ker­en­ski (glück­lo­ser rus­si­scher Regie­rungs­chef im Cha­os­jahr 1917) erlebt. Heu­te wür­de man sagen, es war für sie ein Kul­tur­schock, als sie 1925 aus­ge­rech­net in den Wed­ding kam. Sie ver­ließ ihr gelieb­tes Sankt Peters­burg, um als exo­ti­sche Rus­sin in der Armut eines Ber­li­ner Arbei­ter­be­zirks zu leben.

Blick von außen auf den Wedding

historische Reinickendorfer Straße
Die Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße in den 1920er Jah­ren. Foto: Samm­lung Ralf Schmiedecke

“Eine schö­ne Stadt ist Lenin­grad [Sankt Peters­burg], durch sie fließt die Newa, über die sich wun­der­ba­re, aus Gra­nit gehaue­ne Brü­cken span­nen. Und nun der Wed­ding. Grau und grau.” Ihr Blick ist der Blick eines Men­schen, der nicht rich­tig dazu­ge­hört. In ihrer Kind­heit wur­de selbst­ver­ständ­lich das Jubi­lä­um “300 Jah­re Dynas­tie der Roma­nows” gefei­ert. Im Wed­ding ist sie die bestaun­te Frem­de. “Sogar der Schläch­ter ver­gaß manch­mal, von mir Geld zu kas­sie­ren.” Sie ist die Frau aus dem gro­ßen Buch der Vor­ur­tei­le: “von mir erwar­te­te man, dass ich liter­wei­se Wod­ka trin­ke, hun­dert von Ziga­ret­ten, wenn nicht gar Zigar­ren, rauch­te, und dass ich mei­nen Mann betrü­gen würde.”

Als Neue mit dem Blick von außen fällt ihr vie­les auf. Ihre Beob­ach­tun­gen schen­ken dem heu­ti­gen Leser ein Bild vom dama­li­gen Wed­ding: “ein rie­sen­gro­ßes Eck­haus, das wie eine Kaser­ne wirk­te”, “eine klei­ne Knei­pe mit einem Vor­gar­ten, in dem nichts wuchs”, “in der Rei­ni­cken­dor­fer und in der Schul­stra­ße gab es kaum Geschäf­te”, “Ärz­te, die am Arbei­ter und am Arbeits­lo­sen ver­dien­ten, denn die meis­ten Pati­en­ten waren nicht ver­si­chert, und umsonst gab es kei­ne Behandlung”.

Zwei Zeitenbrüche, doch eins bleibt gleich

Badstraße
Das Ate­lier der Nagels befand sich in den 1930er Jah­ren in der Bad­stra­ße. Foto: Archiv

Der gro­ße Zei­ten­bruch 1933 lässt auch ihr (und das von Otto Nagel) Leben zusam­men­bre­chen. Doch eines bleibt gleich: Wal­li Nagel ist die Rus­sin, die Frem­de. Die Natio­nal­so­zia­lis­ten zer­stö­ren den bis­he­ri­gen All­tag der bei­den Kom­mu­nis­ten Wal­li und Otto Nagel. Freun­de ver­schwin­den, das Ate­lier wird zer­stört, Otto Nagel wird ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Sach­sen­hau­sen bei Ber­lin ver­bracht. “Sie sind eine Emi­gran­tin, eine Rote, oder was sind Sie eigent­lich? Wie kommt der Nagel zu einer rus­si­schen Frau?”, bekommt sie von einem Nazi bei der Ver­wüs­tung ihrer Woh­nung zu hören.

1946 ist wie­der Zei­ten­wen­de. Die Nagels blie­ben als Kom­mu­nis­ten im Osten, zogen nach Bies­dorf. Über die Jah­re in der DDR ver­rät das 1981 erschie­ne­ne Buch wenigs. Doch es klingt durch, dass sie auch dort mit dem eigen­tüm­li­chen Gefühl der Fremd­heit leb­te: “In einer gewis­sen Hin­sicht bin ich aber doch ein rus­si­scher Mensch geblieben …”

So zieht sich das The­ma Fremd­sein durch das gesam­te Buch. Aber es wird auch ihr Wil­le deut­lich, dazu zu gehö­ren, sich ein­zu­brin­gen, Freund­schaf­ten zu knüp­fen. Inso­fern sind die­se Erin­ne­run­gen heu­te im Wed­ding der hun­dert Natio­nen ein aktu­el­les Buch.

Neuauflage von “Das darfst du nicht!”

1981 hat Wal­li Nagel ihre Lebens­er­in­ne­run­gen zuerst in der DDR im Mit­tel­deut­schen Ver­lag ver­öf­fent­licht. Es ist kein lite­ra­ri­sches Werk. Anders als ihr Mann Otto Nagel, dem mit “Das nas­se Drei­eck” ein Roman geglückt ist, ist sie kei­ne Dich­te­rin. Man kann sagen: in dem Buch spricht eine Zeit­zeu­gin. Es liest sich als sei eine Mit­schrift eines auf Ton­band auf­ge­nom­me­nen Gesprä­ches. Wal­ter Frey hat es in sei­nem Ver­lag als zwei­tes Buch der Rei­he Wed­ding Bücher gekürzt und neu her­aus­ge­ge­ben und dabei – wie es so schön heißt – “Irr­tü­mer korrigiert”.

Angaben zum Buch

Wal­li Nagel: “Das darfst du nicht! Von Sankt Peters­burg nach Ber­lin-Wed­ding. Erin­ne­run­gen.” Mit einem Nach­wort von Brun­hil­de Wehin­ger, 209 Sei­ten, ISBN 978−3−946327−14−1, 15 Euro

Web­sei­te der Rei­he Wed­ding-Bücher im Buch­vor­stel­lung durch den Wal­ter Frey Verlag

Autorenfoto Andrei Schnell

And­rei Schnell ent­deckt ein Buch, das ihn über Fremd­sein nach­den­ken lässt.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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