Sind es bunte Einzelstücke, aus denen sich ein wunderbares Fenster-Glasbild zusammensetzen lässt oder ist es Scherbenhaufen? Tatsache ist, dass sich die Wähler in den Ortsteilen Wedding und Gesundbrunnen wünschen, dass sieben Parteien eine relevante Rolle spielen sollen. Denn sieben Parteien liegen über dem psychologisch wichtigen Wert von fünf Prozent (eine 5%-Hürde gibt bei der Europawahl nicht). Hier die Ergebnisse der Europawahl 2024 Kiez für Kiez.
Wedding und Gesundbrunnen insgesamt
Die sieben Parteien, die es über die Mindesthöhe schaffen, sind die Grünen, die Linke, die SPD, die CDU, die AfD, die BSW und Volt.
Grüne: 23,6 Prozent, Linke 12,5 Prozent, SPD 11,9 Prozent, CDU 10,5 Prozent, AfD 7,5 Prozent, Volt 6,5 Prozent, BSW 6,4 Prozent, Die Partei 4,15 Prozent und Mera 4 Prozent. Die weiteren Parteien 13 Prozent.
Gewinner und Verlierer
Gewinner sind die Neuen, Kleinen und Vielen.
Die vielen kleinen Parteien würden Platz zwei belegen, wenn sie sich zu einer Partei zusammenschließen würden. Zählt man alle Parteien zusammen, die über die 5-Prozent-Hürde gekommen sind, dann verbleiben bei den weiteren Parteien 20,9 Prozent.
Zu den Newcomern zählt das Bündnis Sarah Wagenknecht. Die Partei wurde erst im Januar gegründet. Im Wedding und Gesundbrunnen holt sie ohne Anlauf (allerdings mit einem seit Jahrzehnten aus der Politik bekanntem Gesicht an der Spitze) 6,4 Prozent.
Aus der Menge der kleinen Parteien ragt die 2016 vom griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis gegründete linke Partei Mera 25 heraus. Sie springt von der Bedeutungslosigkeit auf vier Prozent. Laut Wikipedia vertritt die Partei "offen pro-palästinensische Positionen".
Die proeuropäische Partei Volt und die Satirepartei Die Partei lassen sich nicht mehr unter "Weitere" zusammenfassen und sorgen damit für eine weitere Auffächerung des Parteienspektrums. Volt legt auf 6,6 Prozent zu, die Partei auf 4,1 Prozent.
Einen - wenn auch kleinen - Gewinn darf die CDU verbuchen. Sie holt 10,3 Prozent. Ein leichtes Plus gegenüber 9,1 Prozent bei der Europawahl 2019.
Ein leichtes Plus fährt auch die rechtspopulistische Partei AfD ein. Im bunten Wedding entscheiden sich 7,4 Prozent für die Partei, vor fünf Jahren waren es 6,9 Prozent.
Auf dem Siegertreppchen stehen in den Ortsteilen Wedding und Gesundbrunnen weiterhin die Grünen. Allerdings gehören sie in die Kategorie der Verlierer. Sie rutschen um acht Punkte gegenüber der Europawahl 2019 ab und kommen nun auf 24 Prozent.
Die Linken holen knapp Platz zwei. Sie geben nur sehr leicht nach. Im Wedding und Gesundbrunnen stimmen 12,6 Prozent der Wähler für sie, bei der letzten EU-Wahl waren es 13,1 Prozent.
Erneut einen Schritt zurück geht es für die SPD. Sie kommt auf 11,9 Prozent. Vor fünf Jahren lag sie bei 13,6 Prozent.
Wahltrend der letzten Jahre
Wahlen messen den Augenblick. Um den Augenblick einzuordnen, hier ein Vergleich mit vergangenen Augenblicken. Mit der Europawahl 2019 hatten die Grünen ihre Spitze erreicht, aktuell verbleiben sie im Wedding und Gesundbrunnen auf einem hohen Niveau.
Die SPD setzt ihren seit Jahren anhaltenden Abwärtsweg fort.
Für die CDU geht es hoch und runter. Ein wirklicher Durchbruch nach oben ist ihnen dieses Mal nicht gelungen. Der Schwung aus der Wiederholungswahl 2023 erhielt einen Dämpfer.
Die Unterscheidung zwischen großen und kleinen Parteien ist endgültig hinfällig. Die über diesem Absatz gestellte Grafik ist dennoch aufgeteilt, um den Überblick zu erleichtern. Bei den hier als "mittlere Parteien" bezeichneten, geht es für die Linke zwar etwas runter, aber es handelt sich im Vergleich zu den Werten der vergangenen Jahre nicht um einen Absturz.
Steil nach oben geht es für Volt und BSW.
Die AfD bleibt im Wedding und Gesundbrunnen dort stehen, wo sie in den letzten Jahren bereits stand.
Afrikanisches Viertel
Grüne: 22,8 Prozent, Linke 10,7 Prozent, SPD 13,5 Prozent, CDU 13,3 Prozent, AfD 8,8 Prozent, Volt 6,1 Prozent, BSW 5,9 Prozent, Die Partei 3,5 Prozent und Mera 2,9 Prozent. Die weiteren Parteien 12,5 Prozent.
Englisches Viertel
Grüne: 17,4 Prozent, Linke 9,1 Prozent, SPD 15,4 Prozent, CDU 18,5 Prozent, AfD 11,8 Prozent, Volt 4,7 Prozent, BSW 6,1 Prozent, Die Partei 3 Prozent und Mera 2,5 Prozent. Die weiteren Parteien 11,6 Prozent.
Brüsseler Kiez
Grüne: 29,3 Prozent, Linke 14,6 Prozent, SPD 11,9 Prozent, CDU 7,6 Prozent, AfD 6,1 Prozent, Volt 7,2 Prozent, BSW 5,5 Prozent, Die Partei 4 Prozent und Mera 3,4 Prozent. Die weiteren Parteien 10,5 Prozent.
Sprengelkiez
Grüne: 32,5 Prozent, Linke 12,4 Prozent, SPD 10 Prozent, CDU 6,1 Prozent, AfD 4,2 Prozent, Volt 8,3 Prozent, BSW 5,2 Prozent, Die Partei 5,2 Prozent und Mera 4,1 Prozent. Die weiteren Parteien 12 Prozent.
Leo/Osramhöfe
Grüne: 28 Prozent, Linke 17,4 Prozent, SPD 9,6 Prozent, CDU 6,3 Prozent, AfD 5,1 Prozent, Volt 7,1 Prozent, BSW 5,8 Prozent, Die Partei 4,5 Prozent und Mera 4,2 Prozent. Die weiteren Parteien 12 Prozent.
Antonkiez
Grüne: 24 Prozent, Linke 13,2 Prozent, SPD 9,2 Prozent, CDU 10 Prozent, AfD 6,1 Prozent, Volt 6,7 Prozent, BSW 6,4 Prozent, Die Partei 3,7 Prozent und Mera 4,8 Prozent. Die weiteren Parteien 15,9 Prozent.
Gerichtstraße
Grüne: 22 Prozent, Linke 12,8 Prozent, SPD 10,9 Prozent, CDU 10 Prozent, AfD 6,2 Prozent, Volt 7,6 Prozent, BSW 7,7 Prozent, Die Partei 3,8 Prozent und Mera 5,3 Prozent. Die weiteren Parteien 14 Prozent.
Soldiner Kiez
Grüne: 24,5 Prozent, Linke 14,5 Prozent, SPD 9,8 Prozent, CDU 8 Prozent, AfD 6,9 Prozent, Volt 7,1 Prozent, BSW 6,4 Prozent, Die Partei 5,2 Prozent und Mera 4,3 Prozent. Die weiteren Parteien 13,3 Prozent.
Gesundbrunnen/Badstraße
Grüne: 24,1 Prozent, Linke 13,9 Prozent, SPD 11,9 Prozent, CDU 8,8 Prozent, AfD 6,5 Prozent, Volt 7,2 Prozent, BSW 5,8 Prozent, Die Partei 4,5 Prozent und Mera 4,5 Prozent. Die weiteren Parteien 12,8 Prozent.
Brunnenviertel
Grüne: 19 Prozent, Linke 10,1 Prozent, SPD 13,3 Prozent, CDU 11,3 Prozent, AfD 9 Prozent, Volt 5 Prozent, BSW 9,3 Prozent, Die Partei 3,6 Prozent und Mera 4,8 Prozent. Die weiteren Parteien 14,7 Prozent.
Was am Ergebnis der einzelnen Parteien auffällt
Die Grünen führen in allen Kiezen die Rangliste an, liegen bis auf das Brunnenviertel stets über 20 Prozent, im Sprengelkiez sogar über 30 Prozent.
Die BSW liegt in allen Kiezen über fünf Prozent (wichtig für künftige Wahlen, bei der es eine Fünfprozenthürde gibt).
Im ehemaligen Bezirk Wedding unterscheidet sich das Wahlverhalten an den Rändern (Afrikanisches Viertel, Englisches Viertel und Brunnenviertel) vom Zentrum. Erstes Beispiel dafür: Volt. Die Partei ist im Herzen des ehemaligen Bezirks Wedding relativ stark und etwas schwächer im Süden im Brunnenviertel und im Norden im Englischen Viertel.
Die CDU ist im Afrikanischen und Englischen Viertel stärker als in den anderen Kiezen.
Es gibt Kieze, in denen die SPD, die im Bezirk Wedding einst eine Hochburg hatte, einstellig ist. In nur einem Kiez kommt sie über 15 Prozent. Wie die CDU ist sie im Afrikanischen und Englischen Viertel stärker.
Die Linke hat ihre besten Ergebnisse am Leo und im Soldiner Kiez.
Die AfD ist im Grunde in allen Kiez gleichmäßig vertreten. Außer im Sprengelkiez, wo sie schwach ist. Und abgesehen vom Englischen Viertel, wo sie sogar ein zweistelliges Ergebnis schaffte.
Verehrter Herr Schnell,
schön, daß Sie sich der Wahlergebnisse en détail angenommen haben. Noch weitaus mehr an Erkenntnisgewinn ließe sich mit den Wahlbeteiligungen in den jeweiligen Quartieren ableiten, vermutlich schwerer zu ermitteln, als prozentuale Abstimmungsergebnisse. Interessant insbesonders deshalb, weil mir grüne Dominanz keineswegs im Verhältnis zu stehen scheint mit der Wahrnehmung potentiell grüner Parteigänger im Habitat, leicht kenntlich an Habitus, Diktion, Kleidung etc. Im öffentlichen Raum eher eine Marginalie, überwiegt dennoch grün-linke Ausrichtung im Abstimmungsverhalten. Eventuell auch im Ergebnis geringer Wahlbeteiligung?
Lustig, wie manche sich nicht vorstellen können, dass ihre Bubble nicht in den Wahlergebnissen repräsentiert ist. Statistisch gehen die rechten Wähler am meisten zur Urne, nur so als Indikator.
Als Wahlhelfer kann ich sagen, am Äußeren und am Umgang mit mir habe ich nicht erkennen können, wer welche Partei von ganz links bis ganz rechts gewählt hat und war am Ende vom Ergebnis in meinem Wahllokal überrascht. Es gilt eben: Beurteile kein Buch nach seinem Äußeren.
Die Wahlbeteiligung ist in den öffentlich zugänglichen Dateien, die ich genutzt habe, enthalten. Sie liegt in den Ortsteilen Wedding und Gesundbrunnen bei 53 Prozent, in Mitte bei 60 Prozent und in Berlin bei 62 Prozent. Ein Zusammenhang zwischen Wahlbeteiligung und Abschneiden der Grünen lässt sich nicht belegen. Höchste Wahlbeteiligung im Sprengelkiez mit 64,8 Prozent führte zu 32,46 Prozent für die Grünen (bestes Ergebnis im Wedding/Gesundbrunnen) und in der Gerichtstraße lag die Wahlbeteiligung bei 41,6 Prozent, Grüne erreichten nur 22 Prozent. Aber auch: Hohe Wahlbeteiligung im Englischen Viertel 62,8 Prozent führt 17,4 Prozent für die Grünen. Geringe Wahlbeteiligung am Leo mit 52,8 Prozent führt dennoch zu 28 Prozent für die Grünen.
Jeder wünscht sich, dass die Dinge leicht zu erklären sind. Aber das Leben und das Schachspiel sind vertrackt.
Du hast jetzt nicht wirklich diesen merkwürdig verkorksten Schachvergleich aufgegriffen? 😉
Die Wahlbeteiligung ist natürlich eine interessante Frage. Andrei hat sie ja schon beantwortet. Ich glaube, man darf sich nicht vom Bild auf der Straße verwirren lassen. Gut ein Drittel der Menschen, die Du dort im Wedding siehst, haben überhaupt gar kein Wahlrecht. Auch wenn sie nach Partei X/Y/Z aussehen, können sie diese gar nicht wählen. Und ich frage mich das manchmal auch selbst: Sieht man mir an, welche Partei ich wähle? Ich habe spaßenshalber mal mein Umfeld befragt. Aus dem Ergebnis der kleinen Umfrage könnte man auch ein hübsche Grafik basteln. Ich kann versichern: so einfach ist das nicht. Zumal ich früher ja auch mal andere Parteien gewählt habe und meinen Habitus, Diktion, Kleidung eigentlich kaum verändert habe. Ich will sagen: Man kann den Menschen nicht in den Kopf gucken und man zieht heutzutage durch die ganze kommunikative Zuspitzung schnell die falschen Schlüsse. Ich wünsche einen schönen Mittwoch!
als alter Weddinger verstehe ich immer noch nicht, wie aus einem Arbeiterbezirk mit der SPD ein Prenzlauer Schickimicki Bezirk werden konnte.
Früher hatte man hier Currywurst mit Pommes gegessen, heute Vegane Grütze mit Blattgold.
Man isst hier heute noch immer Currywurst mit Pommes, besonders gern hier: https://weddingweiser.de/35-jahre-curry-baude/
Es gibt halt jetzt auch noch was anderes, zusätzlich. Bedenklich wäre es doch nur, wenn es nur noch vegane Grütze geben würde. So haben wir die ganze türkische Küche (oder was wir dafür halten), die Currywurst, Bubbletea, Matcha Latte, veganes Eis und vieles mehr. Ich finde die Abgrenzung (hatten wir schon immer/neuer Hipsterkram) manchmal auch gar nicht so einfach: Ist jetzt ein Laden mit Klappstullen total hip oder verkauft nur irgendwas von früher? Ich bin da entspannt und vor allem neugierig, was sich auf Dauer am Weddinger Imbisstresen halten kann, um mal komplett in der Gastronomiemetapher zu bleiben. 😉
Es gibt keine Fünf-Prozent-Hürde bei der Europawahl
Das ist korrekt und war auch nicht so gemeint. Danke für den Hinweis, dass es so verstanden werden musste. Es ging mir um die psychologische Marke. Ich habe Text und Überschrift geändert.
Macron hat gestern Abend Größe gezeigt und wie man mit einer deftigen Wahlklatsche umgeht.
Wann ziehen die deutschen Regierungsparteien endlich die Konsequenzen? Gücklicherweise ist Berlin (und erst recht Mitte) nicht Deutschland!
Ob in diesem Jahr oder im nächsten Jahr gewählt wird, macht für mich jetzt nicht so den Unterschied. Da bin ich nicht mehr jung genug, um mich in Ungeduld zu üben.