Kann der Bezirk sein umfangreiches Kursangebot an Volkshochschule, Musikschule und Jugendkunstschule aufrechterhalten? Das sogenannte Harrenberg-Urteil des Bundessozialgerichts könnte eine massive Kürzung bei den Kursen zur Folge haben. Was das für den Bezirk Mitte und somit für den Wedding bedeutet, haben wir bei Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger (Grüne) nachgefragt.
Umstellung auf Festanstellung kostet
Aufgrund des Urteils ist es den staatlichen Weiterbildungseinrichtungen im Grunde unmöglich, Lehrer auf Honorarbasis zu beschäftigen. Doch fest angestellte Mitarbeiter kosten VHS und Musikschule pro Unterrichtsstunde deutlich mehr als freie Dozenten. Honorarkräfte mit Hochschulabschluss erhalten 41 bis 63 Euro pro 45-Minuten-Einheit. Das ist nicht schlecht. Doch angestellte Lehrkräfte erhalten mehr. Ihr Gehalt liegt in der Tarifstufe E 9b oder E 10. Je nach Erfahrungsstufe schwankt dann das Brutto-Gehalt (ohne Arbeitgeberanteil an der Sozialversicherung) zwischen 3500 und 5000 Euro pro Monat. Und es wird auch außerhalb der Unterrichtsmonate gezahlt. Wenn der Bezirk vom Prinzip freie Dozenten auf Festanstellung umschwenkt, muss er pro Unterrichtsstunde das Mehrfache der heutigen Kosten aufbringen.
Aktuell beschäftigt Mitte an seiner VHS 180 Honorarkräfte und keinen einzigen fest angestellten Dozenten. An Volkshochschule, Musikschule und Jugendkunstschule zusammen sind es 1154 freie Lehrer. In der Musikschule müsste der Bezirk 80 Vollzeitstellen schaffen, um das heutige Angebot über Festanstellungen zu bewältigen.
Bürgermeisterin unterscheidet zwischen VHS und Musikschule
Die Bezirksstadträtin Stefanie Remlinger (Grüne) wünscht sich zumindest für die Musikschulen „schon lange einen höheren Grad an Festanstellungen“. Anders blickt sie auf die VHS. Dort ermögliche es die Freiberuflichkeit, „Menschen aus der Berufspraxis als Kursleitende zu gewinnen und so sehr flexibel und schnell auf gesellschaftliche Bedarfe zu reagieren.“ Dies sei seit über 100 Jahren die inhaltliche DNA der Volkshochschularbeit, so die Bezirksbürgermeisterin.
Anders als in Reinickendorf will der Bezirk Mitte vorerst weiterhin Verträge mit freien Honorarkräften abschließen. Diese sollen aber bis zum 31. Dezember dieses Jahres befristet werden. Bis dahin muss der Senat eine berlinweite Lösung für die Zukunft der Volksbildung finden.
Die Sozialrichter haben geurteilt, unter welchen Bedingungen ein Dozent als freiberuflich gilt. Entscheidend sei allein, wie stark der Lehrer in den Betrieb eingegliedert sei. Die Zahl weiterer Auftraggeber, Verdiensthöhe oder Vertragsbezeichnungen spielten keine Rolle.
Der Text entstand in Zusammenarbeit mit der Weddinger Allgemeinen Zeitung (–> E‑Paper), der gedruckten Zeitung für den Wedding. Autor ist Andrei Schnell.
Im Prinzip stellt sich die Deutsche Rentenversicherung, die die Affäre ausgelöst hat, vor, dass der Musikinstrumente-Unterricht Teil des Schulunterrichts wird und der Staat den größeren Teil der Kosten übernimmt. Nur mit hohen Staatszuschüssen wäre ein beamtenähnlicher Status der Instrumental-Lehrer zu erreichen.
Andernfalls steigen die Kosten für die Familien so stark, dass ein Instrumenten-Unterricht für die Reichen daraus würde, und die Reichen buchen direkt, die brauchen dafür keine Musikschule. Das Gericht hat vermutlich nicht verstanden, dass eine Musikschule eine Einrichtung für Normalverdiener ist.
Zur Information: Ein Artikel zum selben Thema aus dem benachbarten Brandenburg, zufällig von der Musikschule, an der die Deutsche Rentenversicherung die Affäre ausgelöst hat:
https://das-blaettchen.de/2024/05/existenzaengste-an-musikschulen-68976.html
Mein Kind verlor seine fähigste Instrumentallehrerin, weil diese sich, nach Jahren der Lebenskünstlerexistenz als Konzertpianistin, doch lieber auf ihren pädagogischen Abschluss zurückgriff, sich an an einer Schule fest anstellen ließ und dort dringenden Lehrermangel verminderte. Will das Gericht wirklich eine Musikschule erzwingen, die die an den Berliner Schulen dringend benötigten Lehrer abwirbt?