Superwahljahr heißt nicht, dass alle mitwählen dürfen. Der Brunnenviertel e.V. hat einen Podcast veröffentlicht, in dem vier Menschen zu Wort kommen, die bei der Wahl keine Wahlstimme haben. Über einen Kamm scheren lassen sich ihre Gedanken nicht. Wie sich die vier in ihrer Situation fühlen, das ist nicht gleich. Wer sich als Hörer einlässt und den Gesprächen folgt, der lernt vier Menschen kennen, die am Wahltag außenvorbleiben – und damit unterschiedlich umgehen.
Im politischen Streit zählen oft kurze Schlagsätze. “Wer sich nicht zu Deutschland bekennen will, also Staatsbürger werden will, der soll auch nicht wählen dürfen,” sagen die einen. “Wer jahrzehntelang in Deutschland lebt, der soll auch mitentscheiden dürfen, was in seinem Lebensumfeld geschieht,” sagen die anderen. Aber wie sieht die Realität jenseits solcher einfacher Gewissheiten aus?
Evelyne Leandro und Andrei Schnell (der auch Autor dieses Beitrages ist) wollten nicht über Menschen ohne Wahlrecht reden, sondern mit ihnen. Sie wollten sich Zeit nehmen für vier Nachbarn ohne Stimme am 26. September. Die Interviews finden sich als Reihe auf mehreren Plattformen für Podcasts unter dem Titel Stimme der Stimmlosen.
Das erwartet die Zuhörer
In der ersten Episode stellen sich die beiden selbst vor. Evelyne Leandro aus Brasilien erzählt, wie die politische Entwicklung in Deutschland für sie zu einer zusätzlichen Motivation wurde, ihr persönliches Projekt Einbürgerung nun ernsthafter zu verfolgen. Wie ein Gegenstück zum Leben mit Engagement, wie es Evelyne Leandro führt, hören sich die Sätze von von Amal aus Syrien an (Episode 5). Politik und Einsatz für die Gesellschaft sind für sie bei weitem nicht der Mittelpunkt ihres Lebens. Dennoch strebt auch sie die Einbürgerung an. Denn sie möchte einen Pass haben, um frei reisen zu können. (Ostdeutschen kommt das vielleicht vertraut vor). Genau nachgedacht über Integration hat Rasha, ebenfalls aus Syrien. Drei Mal hat sie Jura studiert, in Syrien, in Frankreich und noch einmal in Deutschland. Ihre Überlegung fasst sie in einer Reihenfolge zusammen: “Erst die Sprache, dann die Arbeit, dann die Einbürgerung.” Ana aus Brasilien lebt schon lange im Brunnenviertel und fühlt sich dort sehr wohl. Doch für die Einbürgerung gibt es Hürden, die sie nicht überwindenkann. Die Künstlerin hat noch nicht einmal eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. “Erst brauche ich eine Arbeit”, sagt sie. In der letzten Folge, die noch produziert werden muss, kommt Selo aus der Türkei zu Wort. Er wohnt seit Jahrzehnten im Wedding. Doch er hat sich entschieden, sich nicht Einbürgern zu lassen.
Die Gesprächspartner sind weder repräsentativ noch typisch. Um diesen Anspruch gerecht zu werden, hätten EU-Bürger sprechen müssen. Denn die EU-Ausländer sind in Mitte (für Wedding liegen keine Daten vor) die größte Gruppe unter den Menschen ohne deutschen Pass. Auf Platz zwei folgen Menschen aus der Türkei und anschließend eine Gruppe von Menschen, die die Statistik unter dem Stichwort arabische Länder zusammenfasst. Die Zahl der Einwanderer aus Brasilien ist so unbedeutend, dass keine eigenen Zahlen für sie genannt werden. Sie sind in der Statistik Sonstige. Im Podcast kommen die zu Wort, die über die gesellschaftlichen Netzwerke von Evelyne Leandro und Andrei Schnell erreichbar waren und außerdem zustimmten, öffentlich zu sprechen. Zwei von ihnen (mit Evelyne Leandro selbst sind es drei) setzen auf Einbürgerung – und können auf diese Weise künftig mitwählen. Auch das ist wieder untypisch. In der gesamten Stadt lassen sich pro Jahr 6.000 Ausländer einbürgern – von 700.000 hier lebenden. Unter den Gesprächspartnern im Podcast ist es einer, der sich nicht einbürgern lassen möchte. Für den zweiten sind die Hürden der Einbürgerung zu hoch. “Uns ist wichtig, dass die vier Gespräche lediglich einen Einblick in vier zufällige, für sich stehende Biographien geben. Sie sind nicht für politische Botschaften in die eine oder andere Richtung bestimmt”, sagen die beiden Produzenten des Podcasts.
In der zweiten Folge sprechen Evelyne Leandro und Andrei Schnell mit dem Büro für Bürgerbeteiligung. “Auch wenn man nicht wählen kann, kann man sich einbringen”, sagt Evelyne Leandro. Deshalb war es den beiden wichtig, auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Evelyne Leandros Weg, in Deutschland auf eigenen Füßen zu stehen, führte über Beteiligung. Auch aufgrund dieser persönlichen Motivation wollte sie dieses Thema im Podcast haben.
Symbolwahl ist Anlass
“Ich habe vier unterschiedliche Menschen kennengelernt”, sagt Andrei Schnell. Vor den Interviews hatte er nur sehr wenige Gespräche geführt mit Nachbarn, die nicht in Deutschland geboren sind. Das gibt es, mitten im Wedding, auch wenn es besser wäre, dass mehr miteinander gesprochen wird. “Einerseits habe ich durch die Interviews Menschen mit ganz anderen Sorgen getroffen, als ich sie habe; andererseits habe ich jetzt ein viel besseres Gefühl, worum es beim Wahlrecht für alle eigentlich geht.”
Bewusst haben Evelyne Leandro und Andrei Schnell den Podcast während der Woche der Symbolwahl in Mitte veröffentlicht. Sie wollen auf diese Möglichkeit, die eigene Stimme zu verwenden, hinweisen. “Jeder hat eine Stimme”, sagt Evelyne Leandro, “aber nicht jede Stimme wird gehört”. Sie wollen aber auch, dass in der Debatte um Wahlrecht für Menschen ohne deutschen Pass weniger Ahnungen und Annahmen zur Parteiergreifung führen, sondern konkrete Menschen. “Wenn der Podcast ein klein wenig dazu beiträgt, dass weniger ideologisch argumentiert wird, dann wäre das gut”, sagt Andrei Schnell.
Disclaimer
Die Podcast-Reihe ist ein Projekt im Rahmen der Symbolwahl Berlin-Mitte des Bezirkamtes Mitte in Kooperation mit dem Projekt Demokratie in der Mitte. Die Interviews führten Evelyne Leandro und Andrei Schnell im Namen des Brunnenviertel e.V. Andrei Schnell – Autor dieses Textes – leitet das geförderte Projekt mit und ist gleichzeitig regelmäßiger Mitarbeiter beim Weddingweiser.