Grau in grau – das typisch novembrige Wetter, das zu Berlin ebenso zur Jahreszeit gehört wie die lange Dunkelheit. Wen jetzt noch keine Winterdepression gepackt hat, der muss über ein unerschütterlich sonniges Gemüt verfügen. Und ja, wir im Wedding wissen am allerbesten, dass graues Regenwetter, matschige Laubberge und schlecht gelaunte Menschen die meisten von uns nur höchstens noch zum Verkriechen in die eigenen vier Wände animieren. Hier ein paar Gedanken zu diesem Monat.
Spaziergang des Grau(en)s: Gerade wer sich in Melancholie suhlen kann, wird in unserem Stadtteil garantiert genug Inspiration finden. Aber habt ihr schon einmal die Papierstraße besucht? Viele werden die wohl erst einmal auf dem Stadtplan suchen müssen. Diese Mischung aus Gewerbegebiet, winterfest gemachten Kleingärten und Mietshäusern mit Spielcasinos hat alles, um einen so richtig runterzuziehen. Und wandert doch gleich weiter durch die Kleingärten der Kolonie “Sommerglück” bis zur Koloniestraße, da sieht es erst recht gruselig aus. Joachim Faust
Hässlich und einschüchternd: Ein Klotz, bei dem es mir jedes Mal die Zehennägel hochrollt und ich mir nie ganz sicher bin, ob er nicht doch imstande ist, bleibende Schäden an meiner Netzhaut zurückzulassen, ist das Finanzamt Wedding in der Osloer Straße. Ist man vom Anblick nicht spontan erblindet und noch in der Lage sie zu treffen, möchte man trotzdem lobend auf die Architektenschulter klopfen, denn immerhin stimmen hier Form und Inhalt überein. Hier ist es gelungen, bürokratischer Nüchternheit und Kälte ein Gesicht zu geben, das jedem vorbei schleichenden Passanten das Fürchten lehrt und ihn im Geiste unweigerlich nochmals die Details seiner letzten Steuererklärung durchgehen lässt. In mehreren Lagen wurden Bänder aus Glas im Wechsel mit grauem Beton lustlos übereinander geschichtet. Wer seinen Blick trotzdem die Fassade hinaufzwingt, der langweilt sich spätestens nach Etage drei zu Tode. Lediglich ein blasses Blau an seiner Flanke versucht dem Bau etwas Leben einzuhauchen. Vergebens. An den Rand gedrängt wird es vom Grau durchdrungen und dominiert. Das Leben unterliegt, die Bürokratie wird siegen. Fazit: Wir sind verloren. Den armen Seelen, die im Schlund der Behörde verschwinden, möchte man noch zurufen: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ Ingo Scharmann, Text aus dem Jahr 2013
Das Parkhaus im November: In trister 5‑Uhr-Dunkelheit schaue ich den Bäumen beim alljährlichen Sterben zu. Fast kein Blatt mehr am Ast. Ich wate durch gelbbraune Matsche. An der nächsten Kreuzung wartet schon ein riesiger Blattsauger der BSR, um auch die letzten zertrampelten Farbmomente aus dem Weddinger Grau zu entfernen. Am anderen Ende der Leine versucht mein Hund Geruchsnuancen in zerfleddertem Blattwerk zu identifizieren. Nach einigem Hin und Her entscheidet er, dass es besser wäre, allen eine gepinkelte Nachricht zu hinterlassen. Mit freundlichen Grüßen. In Zeitlupe humpelnd läuft er neben mir her. Er ist im Herbst seines Lebens angekommen. Manchmal ist es eben nur noch die kurze Runde um das Parkhaus. Wie passend er durch die halbtote Szenerie dieser November-Tristesse eiert. Ein Herbst im Herbst. Niemand weiß, wann sein Winter kommt. Und nebenan bildet sich ganz nebenbei wieder eine lange Schlange vor dem Testzentrum. Dieser Herbst ist ein resigniertes Déjà-vu, ein mütender Zustand.
Am Parkhaus angekommen, offenbart sich mir dessen langsam verwaisende brutalistische Realität. Wie ein Mahnmal einer unzerstörbaren Vergangenheit flackern die letzten Lichter aus diesem Klotz. Obwohl hier fast kein Auto parkt, sind die Türen offen. Einmal war ich drin. Der Konsum findet ganz oben statt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Die Kälte kann ich nicht mehr ignorieren. Sie zieht sich durch. Wie absurd, dass man Häuser für Autos baut, aber keinen Platz für Menschen hat. Wir sind im Herbst angekommen und niemand weiß, wann unser Winter kommt. Verschwommene Gestalten gestikulieren im kalten Parkhaus-Licht, während die Baustelle der BHT surreal hell leuchtet. Das Parkhaus soll bald abgerissen werden. Ein Kreislauf aus Beton. Während ich die kurze Parkhausrunde beende, frage ich mich wie oft ich diesen Weg noch gehen werde. Ich frage mich, wann der Winter kommt. Und nebenan verlängert sich ganz nebenbei die Schlange vor dem Testzentrum. Ina Raterink
Vor fünfzig Jahren, als ich noch politisch in einer Partei war, hatten wir uns schon über dieses hässliche Monstrum aufgeregt. Wir bemängelten, daß der Wedding nicht nur zugebaut werden solle und es an zu wenig grün mangele.
Es hieß damals, daß das Parkhaus nicht abgerissen werden könne, da es mit “Bundesmitteln” gebaut wurde. Wir
hatten nämlich als Vorschlag, daß auf der Fläche ein “Erlebnisbad” zur Erholung gebaut werden sollte.