Der Bedarf an Gebäuden für die 23 Bezirksverwaltungen entstand 1920 durch die Eingemeindung von Dörfern und Städten zu einem »Groß-Berlin«. Da die neuen Bezirke Wedding und Moabit nicht über geeignete Bauten verfügten, wurden zwischen 1930 und 1937 Neubauten errichtet. Doch trotz der geringen Zeitdifferenz könnten das Moabiter Rathaus und das alte Rathaus im Wedding nicht unterschiedlicher sein.
Der von Friedrich Hellwig entworfene, 1930 fertiggestellte Verwaltungsbau an der Müllerstraße entspricht mit seinem kubischen Baukörper, der roten Backsteinfassade sowie der Gliederung durch die weißen Fensterbänder der Architektur dem Stil der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre und spiegelt den Geist der Weimarer Republik. Der Besucher betritt das Bezirksamt ebenerdig, hinter der Eingangshalle befand sich der Sitzungsaal der Bezirksverordneten.
Auch Richard Ermisch (1885–1960), der Architekt des Rathauses Tiergarten, sieht sich zu Beginn der 1930er Jahre zunächst der funktionalen Architektur verpflichtet. Er entwirft mit Martin Wagner eines der bedeutenden Bauvorbauvorhaben der Moderne in Berlin: das Strandbad Wannsee. Doch das sieben Jahre später fertig gestellte Tiergartener Rathaus folgt bereits mit seinem Ehrenhof, der Natursteinverblendung, dem Satteldach, dem vorgezogenen Portikus sowie dem damals üblichen Führerbalkon ganz der nationalsozialistischen Architektursprache. Weil im nach dem Führerprinzip organisierten Deutschland eine Bezirksverordnetenversammlung als überflüssig galt, plante der Architekt einen Saal dafür erst gar nicht ein. Mit diesem Rathaus verlor Moabit nicht nur einen zentralen Platz an diesem Ort: Das Bauwerk repräsentierte auch den nationalsozialistischen Herrschaftsanspruch in diesem einst von der Arbeiterbewegung geprägten Stadtteil. In dem Wunsch nach militärischer Kontrolle der Massen standen die nationalsozialistischen Machthaber der verdichteten und durchmischten Stadt kritisch gegenüber. Ironischerweise schien ihre Vorstellung einer aufgelockerten Stadtlandschaft in den Kriegsjahren ausgerechnet durch den Bombenkrieg in greifbare Nähe zu rücken.
In der Nachkriegszeit griffen Architekten das Leitbild der funktional getrennten und verkehrsgerechten Stadt, die Ideen und Ideale der klassischen Moderne aus den 20er Jahren der Weimarer Republik wieder auf. Besonders gut erkennbar ist diese Idee an dem 1955 geplanten Neuen Rathaus Wedding von Fritz Bornemann (1912–2007) mit seinen gestaffelten Baukörpern. So verlängerte er zunächst das alte Rathaus bis zur Genter Straße und ergänzte es mit einem neuen 12geschossigen Flügel, im rechten Winkel zum Altbau und weit von der Straße zurück gesetzt. Den Sitzungssaal ordnete er zunächst im Hof hinter dem Gebäude an. Sein neues Rathaus zeigt die für die 50er Jahre typische gitterförmige Fassadengestaltung. Es glich der Amerikanischen Gedenkbibliothek, jenem Symbol amerikanischer Präsenz in West– Berlin von 1953, an dessen Errichtung Bornemann beteiligt war. Da der Baubeginn des Rathauses aufgrund anderer Vorhaben zurückgestellt wurde, änderte der Architekt dem neuen Zeitgeist entsprechend seine Entwürfe. Damals entwickelte er die für ihn typische schwebende Wirkung der Architektur, die durch das Zurücksetzen des Erdgeschosses oder das Anheben der Baukörper durch Stützen oder Säulen entsteht.
Dass Bornemann den BVV-Saal nun nach vorn zur Straße hin vor das Rathaus stellte, steht im Zusammenhang mit den zeitgleich errichtete Neubauten der heutigen Beuth-Hochschule von Herbert Rimpl (1902–1978). Der Architekt der Moderne, der in der NS-Zeit Chefarchitekt in den Hermann-Göring-Werken war und im Zweiten Weltkrieg unter Albert Speer den Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Berlin plante, errichtete 1963 den zentralen Hochschul-Hörsaal (den Max-Beckmann-Saal, in dem sich heute das ATZE-Musiktheater befindet) als frei stehendes Bauwerk. Die Staffelung seiner Baukörper sowie der Straßendurchbruch der sechsspurigen Luxemburger Straße sind ein Paradebeispiel der für das damalige Westberlin typischen Stadtzerstörung der Nachkriegszeit.
Nur wenige hundert Meter davon wurde an der Müllerstraße von 1962–1964 der BVV-Saal von Bornemann erbaut (einige Jahre befand sich darin die Schiller-Bibliothek). Das Gebäude zeichnet sich durch klare Linien und die nach drei Seiten verglasten Wände aus. Die Transparenz der Architektur wurde damals als Ausdruck der Freiheit der Gesellschaft und des politischen Systems angesehen.
Dabei könnte das Bauwerk nicht nur als Symbol gegenüber dem Stadtverständnis des Nationalsozialismus gewertet werden. Der damalige Weddinger Bürgermeister Helmut Mattis stellte bei der Grundsteinlegung für den Rathaus-Neubau im Sommer 1962 – und damit 10 Monate nach dem Bau der Berliner Mauer – noch einen anderen Zusammenhang her. Er sah im dem Haus ein Symbol für die Freiheit aller Bürger, die bald vom Hochhaus-Turm über das wiedervereinigte Berlin blicken könnten.
Autor: Eberhard Elfert
Ergänzung: Zwischenzeitlich wurde der Rathausturm saniert und beherbergt heute das Job-Center Mitte
Ein ausgezeichneter Artikel. Mein Großvater, Dr. med. Paul Meyer, war von 1939 bis 1945 Oberarzt der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe am Jüdischen Krankenhaus. Er hat nie über seine Zeit dort gesprochen oder geschrieben, aber nach meinen Recherchen war es eine sehr unangenehme Zeit. Ich weiß, dass er keinen Patienten behandelte, ohne dass dieser ein Formular unterschrieb, das bestätigte, dass er jüdisch war. Ab 1941 erhielt er kein Gehalt mehr. Am Ende des Krieges war er nur zu 50 Prozent arbeitsfähig und litt für den Rest seines Lebens.
[…] vor der neuen im Bau befindlichen Bibliothek und direkt neben dem zukünftigen Job-Center-Hochhaus macht die bislang ziemlich unwirtliche und unzugängliche Fläche überhaupt erst zu einem […]