Der Wedding ist nur Provisorium, eine Durchgangsstation auf meinem unaufhaltsamen Weg in die hippen Kieze Berlins. Das erzähle ich meinen Kumpels. In Kreuzberg, Mitte und Friedrichshain waren nur leider die Wohnungen zu mies oder zu teuer. Also: zog ich in den Wedding. Und im ersten Monat nach meinem Umzug von München hierher, in die Turiner Straße, füttert er mich tatsächlich mit reichlich Argumenten für eine baldige Flucht.
In meiner allerersten Woche, ich fahre gerade im Aufzug mit meinem Rad ins Erdgeschoss und will zur Arbeit, hindert mich ein Polizist mit gehobener Hand daran, das Haus zu verlassen: “Einen Moment bitte!”. Hinter ihm rennen fünf weitere Polizisten mit Schutzschildern und Pistolen im Anschlag die Treppe hoch. Danach weist er mich zur Tür hinaus, ich soll verschwinden.
Am nächsten Tag treffe ich zufällig unseren stets mürrischen und einsilbigen Hausmeister und frage nach. Ein Bandido wohne im Haus, erzählt er mir. Die Polizisten seien schon zum dritten Mal gekommen. Waffen und Drogen würden sie regelmäßig bei ihm finden. Herzlich willkommen im Wedding, denke ich mir.
Ein paar Tage später entdecke ich meinen Nachbarn zur Rechten reglos im Flur direkt vor seiner Wohnungstür liegen. Ich stupse ihn an, er röchelt. Er atmet zwar noch, aber mit dem, was er ausstößt, hätte er ein ganzes Bataillon alkoholvergiften können. Der Mann ist strunzbesoffen, seine Frau hat ihn ausgesperrt. Ich sehe ihn heute hin und wieder noch – immerhin auf den Beinen, aber stets wankend und mit glasigen Augen. Tolle Nachbarn!
Zwei Wochen später wird bei meinen Nachbarn zur Linken eingebrochen. Ihre Wohnungstür verriegeln sie seitdem mit zwei Schlössern.Was hält mich hier eigentlich noch?
Das alles ist mittlerweile zwei Jahre her – und ich wohne immer noch im Wedding. Ich habe schon lange keine Weddinger Grenzerfahrungen mehr erlebt. Klar, es gibt sie immer noch reihenweise, diese typischen Meldungen aus dem Wedding: “Mann mit Axt und zwei Messern von Polizei niedergeschossen” oder ganz frisch “Zwei Unbekannte bewerfen Bus mit Steinen”. Dennoch: Ich bleibe. Und mehr noch: Ich suche zwar immer noch nach einer neuen Wohnung – allerdings jetzt gezielt im Wedding. Provisorium adé?!
Schönere, hippere, alternativere und/oder sicherere Ecken bieten vielleicht ganz viele andere Kieze in Berlin. Der Wedding ist hier und da völlig asozial, hässlich und grau. Wer hier wohnt, kennt aber auch die guten, schönen und megacoolen Seiten: die türkischen Märkte, den neuen Leo, den Sprengelkiez mit der entspannt-lebendigen Tegeler Straße und dem gediegenen Nordufer, Plötzensee und Rehberge, die immer mehr werdenden kleinen Bars, Kneipen, Restaurants und Cafés, Ateliers und Galerien.
Vielleicht ist der Wedding im Kommen, aber bis er ankommt, stottert er gewaltig. Gut so. Weil der Wedding eben zu einem großen Teil immer noch das ist, was ich in den ersten Wochen erlebt habe, bleibt er bodenständig. Und irgendwie verrrückt normal.
Autor: Markus Bauer
haha. der TIP brüllt seit min. 10 jahren jeden sommer von seiner titelseite daß der wedding demnächst “kommt”. wollt ihr die totale verprenzlauerBergisierung?
Bei der Überschrift fiel mir nur dieser Artikel im Spiegel ein:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d‑103361704.html
Danke für diese Liebeserklärung an den Wedding.
Ich bin hier im Kinderkrankenhaus (damals in der Reinickendorfer Straße) geboren und in der Malplaquetstr. aufgewachsen. Heute wohne ich in der Groninger Str. Im laufe meines 48jährigen Lebens habe ich viele Veränderungen des Weddings erlebt… besonders die Nazarethkirchstr und auch die Malplaquetstr. erscheinen in den letzten Jahren im neuen Kleid.…
Ich mag den Wedding, er ist meine Heimat – sei er wie er ist. Aber ist er nicht auch ehrlich?
Grüße und ein gutes Neues Jahr von Susanne