Es ist selten, dass sich jemand die Mühe macht, einen unbekannten Stadtteil ohne vorgefertigte Meinung zu erkunden. Lisa Blum, die nicht im Wedding wohnt, hat den Soldiner Kiez auf sich wirken lassen. Zur Methode des ziellosen Umherschweifens hat sie sich von der Situationistischen Internationalen inspirieren lassen und ihre Eindrücke in einem Booklet gesammelt. Hier ein Auszug aus dem Text “Nachbarschaft”:
“Ich laufe die Tromsöer Straße entlang. Die Straße endet in einer Sackgasse. Dahinter erstreckt sich ein lang gezogener Parkplatz. Ich biege rechts ab und folge einem Fußweg, der mich auf ein ehemaliges Industrieareal führt. Kinder spielen vor einer Moschee. Ein Junge, um die sieben Jahre alt, fragt einen anderen Jungen „Hast Du eine Zigarette bekommen“? Sie klettern an einem Treppengeländer hoch, das zu einer Lagerhalle hinaufführt.
Auf der Freifläche zwischen einem Supermarkt und dem POCO-Einrichtungsmarkt stehen Menschen in kleinen Gruppen zusammen und unterhalten sich. Ich laufe über den großen Parkplatz und erreiche die Drontheimer Straße. Auf der anderen Straßenseite beginnt ein Fußweg, der durch einen Park in Richtung Koloniestraße führt. Vor einem der Wohngebäude steht ein Krankenwagen. Gleich daneben ein Polizeiauto. Männer und Frauen stehen in Gruppen auf dem Gehsteig, beobachten und diskutieren. Was hier wohl passiert ist, denke ich, frage aber nicht nach. Sie bleiben unter sich, zwischen den Gruppen scheint es keinen Austausch zu geben.
Ich gehe an einem Café vorbei. Eine Gruppe von Männern sitzt davor. Eine weitere Gruppe steht laut diskutierend auf dem Gehsteig. Sie nehmen mich wahr, ich fühle mich beobachtet und gehe an Ihnen vorbei, schnell, den Blick abgewendet.
An der Soldiner Straße biege ich rechts ab. Ich gehe an einer bewohnten Ladenfläche im Erdgeschoss vorbei, die Glastür steht offen. Drinnen sehe ich Menschen auf einem Sofa sitzen. Ein Fernseher läuft. Sie teilen ihr privates Beisammensein mit den PassantInnen, so als hätten sie ihr Wohnzimmer auf den Gehsteig ausgeweitet. Ich fühle mich hier fehl am Platz, wie ein Eindringling.
Liegt das an meinem Notizbuch, dass ich von allen Seiten so interessiert angeschaut werde?
Neben einem Basketballplatz an der Panke setze ich mich auf eine Bank. Die Sonne scheint, Menschen gehen vorbei. Einige halten auf der Brücke an und blicken auf das Wasser.
Drei ältere Frauen mit Kopftüchern kommen die Soldiner Straße entlang. Eine stützt sich auf einen Rollator. Ich verstehe sie nicht, sie sprechen Arabisch. Sie scheinen zu diskutieren, gestikulieren wild, vielleicht verständigen sie sich, welchen Weg sie einschlagen sollen? Vor der Brücke halten sie einen Moment und genießen die Sonne. Die gehbehinderte Frau nutzt ihren Rollator als Sitzgelegenheit.
Dann gehen sie auseinander. Eine biegt in den Schotterweg ein, der am Ufer der Panke entlangführt, die anderen Beiden laufen auf die Brücke, bleiben dort stehen und blicken auf das Wasser.
Ich gehe an ihnen vorbei. Hinter der Brücke steht ein Wohnblock, vielleicht aus den 60ern oder 70ern. Die Balkone und Terrassen sind zum Innenhof hin ausgerichtet. Ich sehe spielende Kinder auf der Grasfläche im Innenhof. Ein privater Raum, den ich betrete, schnell aber wieder verlasse.
Die Prinzenallee ist lebhaft. Kinder spielen auf den Treppenstufen der Kirche. Eine Gruppe Erwachsener mit kleinen Kindern und Baby-Buggys sitzt auf dem Gehsteig. Sie unterhalten sich und scherzen mit Männern, die auf dem Parkplatz davor ein Auto putzen. Fünf, oder sechs, einer hält eine Sprühflasche in der Hand.
Ich hole mir einen Kaffee im Café Kakadu. Zwei Männer unterhalten sich über ihre neusten Ideen für Apps, die sie demnächst entwickeln wollen. Warum ist Fluktuation in Wohngebieten per se schlecht? Was ist an Veränderung problematisch? Wie lange muss ich in einer Wohngegend wohnen, um dort anzukommen und ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln? Und wo zieht es die Menschen von hier hin? Wie kann ich sie finden und die Gründe für ihren Wegzug dokumentieren?”
Über den Text
Der Text ist ein Ausschnitt aus Lisa Blums Projekt “Searching for the Grey”. Das Projekt entstand im Seminar Forms of Communication von Rosario Talevi an der Technischen Universität. Mit ihrem Projekt möchte Lisa Blum die “gängige Dichotomie von schwarzen und weißen Stadtvierteln – den guten, gepflegten, lebhaften und den schlechten, verwahrlosten, problematischen – hinterfragen”, wie sie sagt. Inspiriert von psychogeographischen Methoden der Situationistischen Internationale hält sie in ihren Kurztexten Beobachtungen, Erfahrungen, Begegnungen und Gedanken fest.
Links:
Lisa Blums und andere Projekte des Seminars stellt die Webseite www.formsofcommunication.wordpress.com vor.
Wikipedia gibt einen groben Überblick über die Situationistische Internationale.
Autor: Lisa Blum. Grafik: Lisa Blum.
Kleine Korrektur: das Bild der Straßenszene zeigt nicht die drontheimer Straße, sondern die prinzenallee…
Berichtigt.