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Nachbarschaft

27. September 2016
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Searching for the Grey. Grafik Lisa Blum.
Sear­ching for the Grey. Gra­fik Lisa Blum.

Es ist sel­ten, dass sich jemand die Mühe macht, einen unbe­kann­ten Stadt­teil ohne vor­ge­fer­tig­te Mei­nung zu erkun­den. Lisa Blum, die nicht im Wed­ding wohnt, hat den Sol­di­ner Kiez auf sich wir­ken las­sen. Zur Metho­de des ziel­lo­sen Umher­schwei­fens hat sie sich von der Situa­tio­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­len inspi­rie­ren las­sen und ihre Ein­drü­cke in einem Book­let gesam­melt. Hier ein Aus­zug aus dem Text “Nach­bar­schaft”:

“Ich lau­fe die Trom­sö­er Stra­ße ent­lang. Die Stra­ße endet in einer Sack­gas­se. Dahin­ter erstreckt sich ein lang gezo­ge­ner Park­platz. Ich bie­ge rechts ab und fol­ge einem Fuß­weg, der mich auf ein ehe­ma­li­ges Indus­trie­are­al führt. Kin­der spie­len vor einer Moschee. Ein Jun­ge, um die sie­ben Jah­re alt, fragt einen ande­ren Jun­gen „Hast Du eine Ziga­ret­te bekom­men“? Sie klet­tern an einem Trep­pen­ge­län­der hoch, das zu einer Lager­hal­le hinaufführt.

Auf der Frei­flä­che zwi­schen einem Super­markt und dem POCO-Ein­rich­tungs­markt ste­hen Men­schen in klei­nen Grup­pen zusam­men und unter­hal­ten sich. Ich lau­fe über den gro­ßen Park­platz und errei­che die Dront­hei­mer Stra­ße. Auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te beginnt ein Fuß­weg, der durch einen Park in Rich­tung Kolo­nie­stra­ße führt. Vor einem der Wohn­ge­bäu­de steht ein Kran­ken­wa­gen. Gleich dane­ben ein Poli­zei­au­to. Män­ner und Frau­en ste­hen in Grup­pen auf dem Geh­steig, beob­ach­ten und dis­ku­tie­ren. Was hier wohl pas­siert ist, den­ke ich, fra­ge aber nicht nach. Sie blei­ben unter sich, zwi­schen den Grup­pen scheint es kei­nen Aus­tausch zu geben.

Ich gehe an einem Café vor­bei. Eine Grup­pe von Män­nern sitzt davor. Eine wei­te­re Grup­pe steht laut dis­ku­tie­rend auf dem Geh­steig. Sie neh­men mich wahr, ich füh­le mich beob­ach­tet und gehe an Ihnen vor­bei, schnell, den Blick abgewendet.

An der Sol­di­ner Stra­ße bie­ge ich rechts ab. Ich gehe an einer bewohn­ten Laden­flä­che im Erd­ge­schoss vor­bei, die Glas­tür steht offen. Drin­nen sehe ich Men­schen auf einem Sofa sit­zen. Ein Fern­se­her läuft. Sie tei­len ihr pri­va­tes Bei­sam­men­sein mit den Pas­san­tIn­nen, so als hät­ten sie ihr Wohn­zim­mer auf den Geh­steig aus­ge­wei­tet. Ich füh­le mich hier fehl am Platz, wie ein Eindringling.

Liegt das an mei­nem Notiz­buch, dass ich von allen Sei­ten so inter­es­siert ange­schaut werde?

Neben einem Bas­ket­ball­platz an der Pan­ke set­ze ich mich auf eine Bank. Die Son­ne scheint, Men­schen gehen vor­bei. Eini­ge hal­ten auf der Brü­cke an und bli­cken auf das Wasser.

Drei älte­re Frau­en mit Kopf­tü­chern kom­men die Sol­di­ner Stra­ße ent­lang. Eine stützt sich auf einen Rol­la­tor. Ich ver­ste­he sie nicht, sie spre­chen Ara­bisch. Sie schei­nen zu dis­ku­tie­ren, ges­ti­ku­lie­ren wild, viel­leicht ver­stän­di­gen sie sich, wel­chen Weg sie ein­schla­gen sol­len? Vor der Brü­cke hal­ten sie einen Moment und genie­ßen die Son­ne. Die geh­be­hin­der­te Frau nutzt ihren Rol­la­tor als Sitzgelegenheit.

Dann gehen sie aus­ein­an­der. Eine biegt in den Schot­ter­weg ein, der am Ufer der Pan­ke ent­lang­führt, die ande­ren Bei­den lau­fen auf die Brü­cke, blei­ben dort ste­hen und bli­cken auf das Wasser.

Ich gehe an ihnen vor­bei. Hin­ter der Brü­cke steht ein Wohn­block, viel­leicht aus den 60ern oder 70ern. Die Bal­ko­ne und Ter­ras­sen sind zum Innen­hof hin aus­ge­rich­tet. Ich sehe spie­len­de Kin­der auf der Gras­flä­che im Innen­hof. Ein pri­va­ter Raum, den ich betre­te, schnell aber wie­der verlasse.

Strassenszene auf der Prinzenallee. Foto Andrei Schnell.
Stras­sen­sze­ne auf der Prin­zen­al­lee. Foto And­rei Schnell.

Die Prin­zen­al­lee ist leb­haft. Kin­der spie­len auf den Trep­pen­stu­fen der Kir­che. Eine Grup­pe Erwach­se­ner mit klei­nen Kin­dern und Baby-Bug­gys sitzt auf dem Geh­steig. Sie unter­hal­ten sich und scher­zen mit Män­nern, die auf dem Park­platz davor ein Auto put­zen. Fünf, oder sechs, einer hält eine Sprüh­fla­sche in der Hand.

Ich hole mir einen Kaf­fee im Café Kaka­du. Zwei Män­ner unter­hal­ten sich über ihre neus­ten Ideen für Apps, die sie dem­nächst ent­wi­ckeln wol­len. War­um ist Fluk­tua­ti­on in Wohn­ge­bie­ten per se schlecht? Was ist an Ver­än­de­rung pro­ble­ma­tisch? Wie lan­ge muss ich in einer Wohn­ge­gend woh­nen, um dort anzu­kom­men und ein Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl zu ent­wi­ckeln? Und wo zieht es die Men­schen von hier hin? Wie kann ich sie fin­den und die Grün­de für ihren Weg­zug dokumentieren?”

Über den Text

Der Text ist ein Aus­schnitt aus Lisa Blums Pro­jekt “Sear­ching for the Grey”. Das Pro­jekt ent­stand im Semi­nar Forms of Com­mu­ni­ca­ti­on von Rosa­rio Tale­vi an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät. Mit ihrem Pro­jekt möch­te Lisa Blum die “gän­gi­ge Dicho­to­mie von schwar­zen und wei­ßen Stadt­vier­teln – den guten, gepfleg­ten, leb­haf­ten und den schlech­ten, ver­wahr­los­ten, pro­ble­ma­ti­schen – hin­ter­fra­gen”, wie sie sagt. Inspi­riert von psy­cho­geo­gra­phi­schen Metho­den der Situa­tio­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le hält sie in ihren Kurz­tex­ten Beob­ach­tun­gen, Erfah­run­gen, Begeg­nun­gen und Gedan­ken fest.

Links:
Lisa Blums und ande­re Pro­jek­te des Semi­nars stellt die Web­sei­te www.formsofcommunication.wordpress.com vor.
Wiki­pe­dia gibt einen gro­ben Über­blick über die Situa­tio­nis­ti­sche Inter­na­tio­na­le.

Autor: Lisa Blum. Gra­fik: Lisa Blum.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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