
Herr Maximilian Keuenhof, Leiter der Schillerbibliothek – Foto Renate Straetling
Gott gab dem Menschen zwei Ohren, aber nur eine Zunge, damit er doppelt soviel zuhören kann wie er spricht.
Sprichwort aus Arabien
Berlin hat über 80 öffentliche Stadtbibliotheken (in ganz Deutschland sind es über 8.000) und dabei echte Superlative zu bieten. Für nur 10 Euro pro Jahr für den Leseausweis kann man alle Bibliotheksangebote des VÖBB-Verbunds nutzen, so auch eBooks, eReader.
In 2023 gab es in Berlin fast 440.000 gültige Leseausweise, und fast 120.000 wurden in diesem Jahr neu ausgestellt. Fast 23 Millionen Entleihungen wurden in diesen Büchereien ausgegeben; fast 31.000 Veranstaltungen (auch Lesungen und Führungen) wurden im Jahr 2023 angeboten (Jahresbericht 2023).
Bei etwa 58.000 Ersterscheinungen (2024, börsenblatt.net) müsste für jedes Interesse und fast alle Leser*innen etwas dabei sein.
Ich sprach mit Herr Maximilian Keuenhof, Leiter der Schiller-Bibliothek am Leopoldplatz im Wedding über das Leseverhalten der Älteren.

Weddingweiser Herr Keuenhof, wann haben Sie die Leitung der Schiller-Bibliothek übernommen?
Keuenhof Das war vor rund drei Jahren, als noch zahlreiche Corona-Auflagen galten – häufig wechselnd zwischen 2G- und 3G-Regelungen. In dieser Zeit habe ich viele meiner Kolleginnen und Kollegen zunächst nur mit Gesichtsmaske kennengelernt. Nach dem Ende der Auflagen und der Lockdowns galt es dann gewissermaßen, die Scherben aufzusammeln und die Bibliotheksarbeit neu zu ordnen. Inzwischen konnten wir jedoch wieder nach vorne blicken und zuletzt das zehnjährige Jubiläum des Neubaus der Schiller-Bibliothek mit einem „schillernden“ Fest feiern.


Fotos: 10-jähriges Jubiläum Schillerbibliothek am 18. Juli 2025 – Fotos Renate Straetling
Weddingweiser Wie schätzen Sie die Nutzerschaft der Schiller-Bibliothek ein?
Keuenhof Hier gibt es eine erstaunlich aktive Bürgerschaft – eine bunte Mischung der Bevölkerung, die sich an diesem zentralen Ort versammelt, wo mehrere Kieze am Leopoldplatz zusammentreffen.
Weddingweiser Etwa zwei Fünftel der Menschen in der zweiten Lebenshälfte liest regelmäßig viel, also mehr als 6 Bücher pro Jahr, aber ein Viertel dieser Altersgruppe liest gar nicht, so sagt es das DZA nach einer Längsschnittbefragung seit 1996 (DEAS). Wie ist die Teilnahme der Alten an den hiesigen Bibliotheksangeboten?
Das Bedürfnis zu lesen weist auf zwei Urbedürfnisse des Menschen hin: Dieser Welt zu entfliehen und diese Welt kennenzulernen.
Ernst R. Hauschka (1926 – 2012), Dr. phil., deutscher Aphoristiker, Lyriker, Essayist und Bibliothekar
Keuenhof Unser Kernstamm an Nutzenden besteht aus der Altersgruppe der 20- bis 40-Jährigen, die regelmäßig wiederkehren. Unter den älteren Besuchenden haben wir einige feste Stammgäste, darunter auch sehr aktive „Power-User“. Von den Passanten hingegen finden nur wenige ältere Menschen als sogenannte Laufkundschaft den Weg zu uns.
Weddingweiser Was bieten Sie an für die Ältren?
Keuenhof Im vergangenen Jahr lag unser Schwerpunkt auf der Arbeit mit Senior*innen. Leider waren die entsprechenden Aktionen nur von geringem Erfolg. In diesem Jahr haben wir die „Plauderecke“ angeboten, die jedoch ebenfalls nicht in dem gewünschten Umfang genutzt wurde. Dennoch bleiben wir an dem Thema dran.
Weddingweiser Was sind die Gründe, warum die Senior*innen so schwer zum Buch in der Stadtbücherei finden?
Keuenhof Wir vermuten mehrere, teils miteinander verknüpfte Gründe. Zum einen spielt die eingeschränkte Mobilität – oftmals verbunden mit gesundheitlichen Einschränkungen – eine Rolle. Großdrucke für Menschen mit Sehschwächen hatten wir zeitweise im Ausleihangebot, mussten dieses jedoch aufgrund mangelnder Nachfrage wieder einstellen. Hinzu kommen weitere Barrieren, etwa Ermüdung beim Lesen oder demenzielle Erkrankungen. Eine Sektion zum Thema „Demenz“ besteht allerdings noch.
Weddingweiser Können Sie dazu konkreter vor Ort Werbung machen?
Keuenhof Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Bibliotheken waren in den Senior*inneneinrichtungen vor Ort und haben dort sich selbst sowie die Angebote der Bibliothek vorgestellt. Der Erfolg, Leser*innen damit in die Bücherei zu holen, war leider gleich Null. Ernüchternd, aber wahr!
Weddingweiser Wie kann man die Motivation zum Lesen anheben?
Keuenhof Die Situation ist in der Tat schwierig. Wir sehen drei große Herausforderungen: die bereits genannten gesundheitlichen Einschränkungen, gesellschaftliche Veränderungen und nicht zuletzt die digitale Konkurrenz, etwa durch das Fernsehen. Während der Corona-Zeit kam für viele – insbesondere ältere Menschen – eine teils unerträgliche Isolation hinzu. Mit unseren Angeboten konnten wir jedoch einige aus dieser misslichen Lage herausführen. Bibliotheken zählen zu den sogenannten Dritten Orten: neutrale Räume, die neben Zuhause und Beruf unter anderem nachbarschaftliche Gemeinschaft ermöglichen.
Für viele Menschen ist unsere Bibliothek sogar das „Wohnzimmer des Weddings“. Bei uns kann man täglich Zeitungen und Magazine lesen oder an vielfältigen Veranstaltungen teilnehmen. Zudem veröffentlichen wir mittlerweile einen monatlichen Flyer, der einen Überblick über sämtliche Veranstaltungen der Bibliotheken in Mitte bietet – sowohl über die regelmäßig stattfindenden als auch über einmalige Events.


Weddingweiser Wie kann man die moderne Aufstellung der Stadtbüchereien beschreiben?
Keuenhof Bibliotheken sind längst nicht mehr nur Aufbewahrungsorte für leihbare Bücher. Heute bieten sie eine große Vielfalt an Medien wie unter anderem DVDs, Spiele oder eBooks. Darüber hinaus sind sie zu kreativen und sozialen Räumen des Austauschs geworden – etwa durch Podiumsdiskussionen, Buchvorstellungen und Gesprächsrunden.
Weddingweiser Wie umschreiben Sie Ihre Bemühungen um die Seniorenschaft als Leser*innen?
Keuenhof Wir haben bereits zahlreiche Projekte umgesetzt und verfügen weiterhin über viele Ideen für neue Initiativen – stets mit dem Ziel, auch ältere Menschen zu erreichen und zu aktivieren. Denkbar sind beispielsweise Bibliothekspatenschaften oder intergenerationelle Tandem-Projekte, etwa in Kooperation mit dem nahen Zukunftshaus (MGH bei PGS, Müllerstraße 56–58). Zudem engagieren sich die Stadtteilmütter mit Vorleseangeboten in türkischer und arabischer Sprache, und auch mit dem Kollektiv migrantas arbeiten wir aktuell zusammen. Solche Organisationen können ältere Menschen auch anders erreichen.
Weddingweiser Aber da haben Sie doch viele weitere Werkstätten, die große Freude bringen!
Keuenhof Tatsächlich bieten wir – wie auch viele andere Bibliotheken der Stadt – eine Vielzahl praktischer Formate an: Dazu gehören Kreativworkshops, das „Digital-Zebra“, Upcycling-Angebote sowie eine Nähwerkstatt, die von Studierenden einer Designschule unterstützt wird. Und last but not least steht unseren Nutzerinnen und Nutzern im Foyer nach wie vor ein klassischer Münzkopierer zur Verfügung, der trotz moderner, kostenfreier Scan-Möglichkeiten am PC weiterhin gerne genutzt wird. Manchmal sind es die kleinen Dinge…

In der Eingangshalle der Schillerbibliothek am Leopoldplatz – Foto Renate Straetling
Weddingweiser Ich hörte vom Projekt Kleidertausch. Wie geht das?
Keuenhof Der Kleidertausch ist ein ausgesprochen erfolgreiches Format: Zuletzt kamen an einem Freitag rund 100 Besucher*innen, darunter erfreulicherweise auch viele ältere Menschen. Die Teilnahme erfolgt nach einem einfachen Prinzip: Wer gut erhaltene Kleidung mitbringt, darf im Gegenzug passende Stücke mitnehmen. Verbleibende Restbestände werden anschließend an einschlägige soziale Organisationen weitergegeben.
Weddingweiser Was wären die Themen, die die Älteren interessieren sollten?
Keuenhof Ich halte es für sinnvoll, verstärkt Ratgeber zum Übergang in die Rentenzeit anzubieten. Dabei geht es nicht nur um praktische Informationen, sondern auch um die grundlegende Frage nach dem Lebensinhalt: Wie gestalte ich meine Zeit im Alter?
Auch ältere und hochbetagte Menschen lassen sich weiterhin für neue Impulse interessieren und bleiben aufgeschlossen. Für diese Zielgruppe eignen sich beispielsweise Kurzgeschichten, da sie sich auch ohne langes, ermüdendes Lesen genießen lassen. Zudem können unsere eReader eine wertvolle Unterstützung sein: Die Geräte lassen sich individuell anpassen – etwa in der Schriftgröße oder der Art des digitalen Blätterns
Weddingweiser Wie geht das mit den Onlinemedien vor sich?
Keuenhof Im bundesweiten Vergleich nimmt Berlin mit seinem umfangreichen Angebot an Onlinemedien eine herausragende Stellung ein. Mit dem Projekt Digital-Zebra, das von Herrn Wilhelm mehrmals wöchentlich betreut wird, bieten wir persönliche Unterstützung direkt an den Geräten der Besucher*innen – sei es am Handy, Smartphone oder Notebook. Dabei werden konkrete Lösungen für alltägliche digitale Fragen gemeinsam eingerichtet und erklärt.
Ein ganz neues Format unter dem Motto „Schiller unplugged“ startet bei uns im September 2025: ein kreatives Bastelevent, bei dem die Teilnehmenden ihre Handys zuvor abgeben und in speziellen Handy-Safes verwahren lassen. So entsteht Raum für ein analoges und persönliches Miteinander. Das Angebot ist selbstverständlich kostenfrei.

Gespräch und Fotos: Renate Straetling
Info: Die Schiller-Bibliothek hat noch bis zum Jahresende auch am Sonntag geöffnet. Mo-Fr 10−19.30, Sa 10–14, So 12–18 Uhr
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LINKS
https://www.berlin.de/stadtbibliothek-mitte
https://www.berlin.de/stadtbibliothek-reinickendorf/wir-ueber-uns/jahresbericht/artikel.1208232.php
Vllt wollen die Senior:innen nicht als solche, sondern als Leser:innen aka lesende Menschen angesprochen werden?
Herausragend gut und eher nicht so gut bekannt ist, dass das Berlin-weite Angebot an Medien auch in der Kiez-Bibliothek wahr genommen werden kann.
Ja, durchaus, das ist sicherlich immer gemeint, die Älteren als Mitbürger*innen zu sehen; immerhin leben sogar 75 % der Ü 90-Jährigen noch alleine in ihren Wohnungen.
Dennoch darf man nicht leugnen, dass es spezielle Altersfragen gibt, die der Buchratgeber würdig sind: Der Übergang in die Rente/Pension, die Steuerfragen bei der Rente, die Enkel (und eigenen Kinder), gewisse Gesundheitsprobleme, die Vorsorgen, die üblicherweise durch Verschleiss entstanden, die Verwitwungen.…
Ich denke, dass daher bei Büchern, Vorträgen und Events der Aspekt Senior*innen zu benennen angebracht ist.
Die Bibliotheken unternehmen ja wirklich viel. Aber eins verstehe ich nicht.
Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt dann muss eben der Prophet zum Berg kommen.
Die Bibliotheken bieten für Schulkinder die Fahrbibliothek an. Diese Busse fahren an festen Tagen eine feste Route ab, um Kinder für das Lesen und die Bibliotheken zu begeistern. Warum kann man dieses Angebot nicht auf Senioreneinrichtungen ausweiten und dort einfach vorbeifahren damit sich die Senioren bei sich vor der Tür Bücher ausleihen können.
Mit zunehmendem Alter nimmt ja die Mobilität eher ab statt zu.
Während der Ferien fährt verständlicherweise der Bus ja keine Schulen an. Da wäre es doch sinnvoll dieses Angebot mal für Senioren zu testen.