In unmittelbarer Nachbarschaft zum Wedding, auf den Friedhöfen des Berliner Doms und des Französischen Doms an der Liesenstraße 6⁄7 gibt es fünf Grabstätten, die zwei Erfindern und drei Fachschriftstellern der Stenografie ein ewiges Andenken sichern sollen. Die Historikerin Ute Pothmann stellt uns die Stenografen vor.
Berühmte Stenografen
Wilhelm Stolze (1798−1867)
Der junge Berliner Versicherungsangestellte Wilhelm Stolze begeisterte sich seit den frühen 1820er Jahren für die Stenografie, die seinerzeit nur wenige Akademiker praktizierten. Er gab sogar seine Festanstellung auf, um ein neues stenografisches System zu kreieren. 1841 veröffentlichte er sein zweibändiges „Theoretisch-practisches Lehrbuch der deutschen Stenographie“. Seine ersten Schüler Carl Kreßler (1804−1901) und Agathon Jaquet (1803−1880) trugen wesentlich zur Verbreitung des Stolze-Systems, und damit der Stenografie überhaupt, bei. Sie professionalisierten den Stenografenberuf durch die Gründung eines stenografischen Vereins (des ersten in Deutschland) sowie der Herausgabe einer Fachzeitschrift und der Ausbildung von Stenografielehrern. Der Chemiefabrikant Kreßler war Schriftführer der Polytechnischen Gesellschaft, einer Vereinigung namhafter Berliner Industrieller, in der er für die Stenografie warb. Der Ministerialbeamte Jaquet führte die Kurzschrift in den preußischen Parlamentsbetrieb ein. Das von ihm eingerichtete „Stenographische Bureau der Preußischen Zweiten Kammer“ wurde seit 1852 von Stolze geleitet. Stolzes System ging 1924 in die Deutsche Einheitskurzschrift ein. Bereits 1897 wurde sein System mit dem Stenografiesystem Ferdinand Schreys (1850−1938), das sich seit den 1880er Jahren in Deutschland schnell verbreitet hatte, zum „Einigungssystem Stolze-Schrey” zusammengeführt. Das „Einigungssystem“ ist in der deutschsprachigen Schweiz noch heute das führende Stenografiesystem. Das Grabmal von Schrey liegt übrigens auf dem Friedhof Dahlem-Dorf (Königin-Luise-Str.). Stolzes Grabmal ist eine freistehende, gegliederte, sich nach oben verjüngende Stele auf rechteckigem Grundriss. Ihr geschweifter Aufsatz wird von floralen Elementen geschmückt und ist heute von Zweigen nebenstehender Bäume fast ganz verborgen. Auf der Vorderseite der Stele ist ein Medaillon mit Stolzes Profil angebracht.
Max Bäckler (1856−1924)
Überragenden Anteil am Zustandekommen des „Einigungssystems Stolze‑Schrey“ hatte Dr.Max Bäckler. Der im ostpreußischen Elbing (heute Elbląg, Polen) geborene Sprachwissenschaftler war ein vielgefragter Stenograf, erfolgreicher Verbandsfunktionär und hochproduktiver Fachschriftsteller. Seine Schreibgeschwindigkeit, seine mitreißenden Reden und sein organisatorisches Geschick waren schon zu Lebzeiten legendär. Seit 1897 betrieb er ein renommiertes Büro für parlamentarische Berichterstattung und war Vorsitzender gleich mehrerer Stenografenverbände. Bäckler war im In- und Ausland tätig, er stenografierte im Auftrag zahlreicher Zeitungen im Reichstag und für Berufs- und Fachverbände auf deren Kongressen und Versammlungen. Bei dem aufsehenerregenden Prozess zur Beleidigungsklage des Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (1875−1921) gegen den republikfeindlichen Politiker Karl Helfferich (1872−1924) im Jahr 1920 stenografierte Bäckler die Gerichtsverhandlungen. Bäcklers Grabstätte, heute fast ganz von Efeu bedeckt, wird von einer niedrigen, gegliederten Steinmauer rechteckig umrandet. An der rückwärtigen Schmalseite der Umfassung erhebt sich ein rechteckiger, flacher Grabstein, der auf einen Quader gesetzt ist, sowie beidseitig von Pfeilern gerahmt und oben von einer Platte bedeckt wird. Die Vorderseite des Steines schmückt sein Porträtmedaillon.
Franz Stolze (1836−1910)
Wilhelm Stolzes Sohn, Prof. Dr. Franz Stolze studierte Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Seine Interessen und Fähigkeiten waren weit gespannt: Er unterrichtete Stenografie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (heute: Humboldt-Universität zu Berlin); hier edierte er nicht nur die Neuauflagen des väterlichen Lehrbuches, sondern verfasste auch eigene Schriften zur Stenografie. Stolze entwickelte überdies eine Gasturbine, deren Prinzip zum Vorbild heutiger Gasturbinen wurde. Vor allem aber war er ein Pionier der Fotografie, deren Technik er in zahlreichen Handbüchern beschrieb. 1866 gründete Stolze eine Fabrik zur Herstellung von Fotopapier und Kameras und beteiligte sich am Aufbau eines Fotolabors in der Königlichen Gewerbeakademie (heute: Technische Universität Berlin). Das preußische Kulturministerium sandte Stolze 1874 ins damalige Persien (heute Iran), um Himmelsphänomene zu fotografieren. Stolze blieb bis 1881 im Land, um archäologische Ausgrabungen zu dokumentieren. Stolzes schwarz-weißer, marmorierter Grabstein ist einteilig, hat eine glattgeschliffene Oberfläche und einen dachartigen Abschluss; der Stein ist auf einen hellen Quader gesetzt.
Der Text auf der Vorderseite des Steines nennt die drei Gebiete, auf denen Stolze jun. tätig war: Stenografie, Fotografie und Maschinenbau.
Alfred Daniel (1868−1921)
Dr. Alfred Daniel veröffentliche Lehrbücher zum Stenografiesystem „Stolze-Schrey“ und zur Stenotachygraphie, dem von August Lehmann (1843−1893) entwickelten Stenografiesystem. Zu Lehmann publizierte Daniel 1906 auch einen Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie. Daniels rechteckiger, schwarzgrau marmorierter Grabstein steht auf einem hellen Quader. Im unteren Teil des Steines befindet sich eine Texttafel. Der obere Teil hat die Form eines Hauses, dessen Vorderfront ein Kranz aus Blättern schmückt; in der Kranzmitte ist das Monogramm platziert. Der dachförmige obere Abschluss endet in nach innen gedrehten Voluten.
Leopold Arends (1817−1882)
Ein weiterer „Altmeister der deutschen Kurzschrift“ war der in Rokiškis (Litauen) geborene Leopold Arends. Der gelernte Apotheker erarbeitete sich ein breitgefächertes Wissen in naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Gebieten. 1841 bestand er die Staatsprüfung zum „wissenschaftlichen Lehrer“. 1844 nach Berlin übersiedelt, arbeitete Arends hier als Journalist und Redakteur sowie als Lehrer für Physik und Chemie im Berliner Handwerkerverein. Sein besonderes Interesse an Sprache und Schriftkunde ließ ihn stenografische Studien betreiben und schließlich ein eigenes Stenografiesystem entwickeln. Arends beanspruchte, eine einfache, leicht erlernbare und gut anwendbare Kurzschrift geschaffen zu haben. Er unterrichtete sein System in verschiedenen deutschen Großstädten und gründete eigene Stenografievereine. 1850 veröffentlichte Arends ein erstes Lehrbuch, dem in den nächsten Jahrzehnten weitere folgten, darunter der „Vollständige Leitfaden einer rationellen Stenographie“. Seine Publikationen erlebten viele Auflagen und fanden auch im Ausland, insbesondere in Schweden, großes Interesse. Arends’ System wurde in mehrere europäische Sprachen übertragen. Übrigens: Arends bedeutender Schüler Heinrich Roller (1839−1916), der das für den Selbstunterricht konzipierte „Vollständige Lehrbuch der Volksstenographie“ veröffentlichte, ist auf dem heutigen Friedhofspark an der Pappelallee (vormals Friedhof der Freireligiösen Gemeinde) begraben.
Arends Grabmal ist ein freistehendes, gegliedertes Postament, auf dem die bronzene, vom renommierten Bildhauer Alexander Calandrelli (1834−1903) geschaffene, Büste des Kurzschrifterfinders steht. Auch heute noch, im Zeitalter von Spracherkennung und Speech-to-text-Apps, widmen sich viele Menschen der Stenografie als „Schreibsport“. Sie sind über Landesverbände im Deutschen Stenografenbund e.V. organisiert, der regelmäßig Wettbewerbe in der „Disziplin Kurzschrift“ veranstaltet.
Text/ Fotos: Ute Pothmann