Lesebühnenautor Robert Rescue muss manchmal eingreifen. Den ein oder anderen unbedachten sprachlichen Fauxpas kann er nicht unkommentiert stehenlassen. Vor allem weil er sich schon in jungen Jahren mit Pharaonen beschäftigt hat und darüber hinaus auch gelegentlich eine Apotheke besucht …
Es hat eine neue Apotheke auf der Müllerstraße aufgemacht. Die Wievielte ist das eigentlich? Ich komme auf etwa fünfzehn auf einer Länge von drei Kilometern. Wer braucht so viele Apotheken? Kann die inzwischen jeder Hinz und Kunz eröffnen? Lernen die nichts über Standortwahl? Oder sind alle Weddinger krank und deshalb der Bedarf immens?
Und dann der Name: Kleo-Apotheke. Die meisten Weddinger werden nur „Leo“ lesen und sich fragen, warum sich die Apotheke nicht weiter unten am Leopoldplatz befindet. Neben dem Firmennamen über dem Eingang ist eine stilisierte Abbildung zu sehen, aber selbst die wird die meisten Weddinger nicht dazu bringen, an die Pharaonin Kleopatra zu denken … Moment mal, die Ansicht stellt überhaupt nicht Kleopatra dar. Die ist doch eindeutig der Büste der Nofretete im ägyptischen Museum nachempfunden! Was für eine Sauerei, das kann ja wohl nicht sein!
Verärgert betrete ich die Apotheke.
„Guten Tag, ich hätte gerne eine Packung Aspirin. Und ja, ich weiß, wie man die anwendet. Ich bin fast fünfzig Jahre alt und hatte schon öfter im Leben Kopfschmerzen.“
„Bitte schön, der Herr. Darf es noch etwas sein?“
„Ja, eine Frage hätte ich noch: Wer ist eigentlich auf die Idee mit dem Namen ‚Kleo-Apotheke‘ gekommen?“
„Das war ich. Ich bin der Inhaber. Sie haben sich bestimmt gefragt, wofür der Name ‚Kleo‘ steht, nicht wahr? Also das ist wegen der Pharaonin Kleopatra im alten Ägypten. Ich finde, Kleopatra war schön und anmutig. Genau wie meine Apotheke. Außerdem war die Domain noch frei. Ist nicht leicht, bei den ganzen Apotheken heutzutage noch eine freie Website zu finden.“
„Mag sein“, sage ich. „Aber mit dem Namen tun Sie Ihrer Zunft keinen Gefallen. Wissen Sie, Kleopatra hatte großes Misstrauen gegenüber den Heilkundigen ihrer Zeit. Sie nannte sie ‚böse Magier‘ und ‚Diener der Finsterwelt‘. Kleopatra war zwar schön, da pflichte ich Ihnen bei, aber zugleich wahnsinnig. In einem Papyrus aus dem Jahre fünfunddreißig vor Christus wird beschrieben, dass sie in Alexandria alle Heilenden und deren Familien zusammentreiben ließ. Die Leibgarde tötete alle: Männer, Frauen, Kinder. Die Leichname wurden zerstückelt und in den Nil geworfen.“
„Das ist ja schrecklich!“ Der Apotheker hebt abwehrend die Hände. „Ist das denn wirklich so gewesen?“
„Ich berufe mich auf Stanley Petterson. Petterson von der Stanford University. Er hat 1957 erstmals zu diesem Vorfall geforscht. 1983 hat Miller in Harvard seine Forschungen dazu bestätigt und weitere Vorfälle dieser Art nachgewiesen, die somit die ideologische Einstellung von Kleopatra zur heilenden Zunft bestätigen. Dazu dienten ihm vorrangig die Aufzeichnungen des römischen Geschichtsschreibers Plutarch. Fullerton aus Oxford hat 2012 abermals zu dem Thema geforscht und die Ergebnisse der Kollegen bestätigt. Ich kann nicht annehmen, dass Sie in der Ägyptologie genug bewandert sind, um die herausragenden Arbeiten von Petterson, Miller und Fullerton entsprechend würdigen zu können. Aber Stanford, Harvard und Oxford sagen Ihnen etwas, oder?“
„Ja, natürlich. Das habe ich ja nicht gewusst.“
„Meine Darlegung ist noch nicht zu Ende“, weise ich ihn zurecht. „Durch die Leichen wurden Teile des Nils verseucht. Die Menschen tranken das Wasser und wurden krank. Die genannten Fachleute sind sich einig, dass dies von Kleopatra gewünscht war. Sie wollte, dass die einfache Bevölkerung Ägyptens an eine schlimme Heimsuchung glaubte, ausgelöst durch Vertreter der heilenden Berufe. Die Ärzte gaben ihr Bestes, um die fürchterlichen Folgen einzudämmen, aber die große Anzahl der Toten schränkte die Handlungsfähigkeit der Heilenden immens ein. Vielerorts kam es zu Lynchmorden an den Heilenden.“
„Meine Güte, ich habe das alles nicht gewusst! Sonst hätte ich nie meine Apotheke nach ihr benannt!“
„Sie haben bestimmt nur den Wikipedia-Artikel zu ihr gelesen, habe ich recht? Oder etwa die ketzerischen Schriften von diesem Hartmann aus Leipzig, der allen Ernstes behauptet, die von mir genannten Koryphäen hätten unrecht gehabt?“
„Ja, für Fachliteratur fehlt mir das Wissen“, gibt der Apotheker zu. „Nein, dieser Hartmann sagt mir nichts. Es musste schnell gehen mit dem Namen, wie ich zugeben muss. Tut mir leid.“
„Das muss es nicht, wirklich nicht. Sie konnten ja nicht wissen, dass Kleopatra als Namensgeberin für eine Apotheke nun wirklich nicht geeignet ist. Aber Sie sollten den Namen bald ändern, nicht, dass einer Ihrer Kollegen, der vielleicht eher in der altägyptischen Historie bewandert ist, auf den Namen aufmerksam wird und Sie im Berliner Apotheker-Verein an den Pranger stellt.“
„Sie haben recht. Das wäre fatal für mich. Um Gottes willen, was mache ich bloß? Ich muss sofort den Namen ändern. Aber ich habe keine Idee, verdammt!“
„Ich hätte da eine.“
„Ja? Sagen Sie, bitte.“
„An sich, also aus dem geschichtlichen Kontext heraus, naheliegend – Nofretete. Sie stammte aus dem einfachen Volk und ihr Vater war Priester und Einbalsamierer. Ich denke, Sie wissen, welche Bedeutung die Kunst der Einbalsamierung auch für die heilenden Berufe hat? Zudem bedeutet ihr Name ‚Die Schöne ist gekommen‘ und das wäre doch passend für Ihre neueröffnete Apotheke. Außerdem möchte ich fast glauben, dass die entsprechende Domain noch frei ist, denn ein solcher Name für Ihr Geschäft dürfte hierzulande nicht sonderlich verbreitet sein. Zu guter Letzt, und das müssen Sie sich quasi auf der Zunge zergehen lassen, hat der Name ‚Nofretete-Apotheke‘ einen, wie ich finde, poetischen Beiklang, denken Sie nicht auch?“
„Das ist eine gute Idee“, pflichtet mir der Apotheker bei. „Ich danke Ihnen sehr. Ich werde das schnellstmöglich umsetzen. Ich möchte mich erkenntlich zeigen für Ihre Hilfe. Darf ich Ihnen die Packung Aspirin kostenfrei überlassen?“
„Das wäre sehr freundlich. Ich danke Ihnen. Der Besuch hier war sehr anregend. Ich werde sicherlich wiederkommen.“
Draußen bleibe ich stehen und packe die Tabletten in den Rucksack. Es hat sich gelohnt, dass ich mich in jungen Jahren intensiv mit der Geschichte der Pharaonen beschäftigt habe. Ist zwar nicht viel übriggeblieben nach all der Zeit, aber mit ein bisschen Improvisation lassen sich interessante Zusammenhänge darlegen. Ich schaue hoch zu dem Namen und der Abbildung.
Jetzt fügt sich alles. Das ist mir wichtig.
Autor: Robert Rescue
Dieser Text erscheint in „Das ist alles 1:1 erfunden“, Kurzgeschichtensammlung, Periplaneta Verlag Berlin. Als Teil der Weddinger Lesebühne Brauseboys ist Robert Rescue unter anderem regelmäßig im La Luz im Wedding zu erleben, jeden Donnerstag ab 20.30 Uhr.