Auf der Kinoleinwand geht es nur um junge Menschen und ihre Geschichten. Ist das noch immer so? In Blick in die Spielpläne zeigt: neuerdings wächst der Markt an Filmangeboten, die sich hauptsächlich der Lebenssituation der Alten widmet. Auf Moviepilot finden sich in verschiedenen Kategorien wie “Die besten Seniorenfilme” oder auch “Seniorenthriller” insgesamt über 150 beschriebene Titel. Und auch in den Weddinger Lichtspielhäusern kommen immer mehr Ü60 vor.
Die sogenannten Babyboomer, diejenigen also, die zwischen etwa 1955 bis 1969 geboren wurden, gehen spätestens ab 2020 bis 2036 in Rente und bringen einen rasanten Aufschwung an Kinofilmen mit sich, die das Thema Alter(n) und entsprechende Lebenssituationen humorig und voller Menschlichkeit aufgreifen. Man denke an „Honig im Kopf“ (2014), „Wenn wir alle zusammenziehen?“ (2011) oder den – doch nicht – ersten dieser Filme nach einem Buch aus dem Jahr 2009 „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Mit diesem letzteren Titel war etwas angesprochen, was schon im Jahr 1978 allgemein ansteckend begeisternd war, nämlich (Kleine Fluchten, 1978) das naive aber zielstrebige Im-Schlafanzug-aus-dem-Fenster-klettern, losgehen und mit dem Mofa losfahren … und abheben. Schon Ende der 1970er hat mich, selbst Babyboomerin, und andere diese Fantasie von den Kinostühlen in die Höhe gerissen.
Welche Vielfalt an Restwelten im Alter tut sich da auf? Schauen wir etwas genauer!
Das Genre Seniorenfilm ist noch nicht offiziell, man kann schon ahnen, dass unter den Genres und Untergenres diese Filme und Kultfilme als eigenes bald erscheinen wird, denn lives go on, und auch die Jüngeren aus der Internetzeit werden älter und hochaltrig werden und ihre Lebenswelt im Alter kultivieren und trotz Internet an Engpässe stoßen, die aufmüpfig werden lassen oder auch melancholisch, wenngleich das Thema Einsamkeit im Alter offiziell durch politische Maßnahmen verschiedener Art flankiert wird.
Was gibt es nicht doch im Alter an Außergewöhnlichem zu erleben? Ist es nicht schon anstrengend genug, die Einführung und alltagsrevolutionierende Verbreitung des Internet und der Geräte wie PC, Notebook, Tablet und Smartphone zu erleiden? Niemand dachte zunächst daran, die Senioren zu schulen, so dass viele Senior:innen nun leidvoll nicht einmal ein Ticket und obendrein ein Zeitfenster im Web buchen und ausdrucken können. Ist es für viele nicht schon neben Mühen und Leid, ein Abenteuer, den Alltag mit kleinen Einschränkungen zu meistern?
Aber es geht noch weiter! Was die Lebenssituation der Alten nun so komisch macht, sind das Aufeinanderprallen der alten und der neuen Welt im Alter neben der höheren Fitness und den wohlständischen Ansprüchen der heutigen Zeiten. Hinzu kommt, dass alte Menschen heute 20 bis 30 Jahre nach der Berentung weiterleben und mehr gesunde Jahre denn je haben. Wenngleich sich für viele und vermehrt Senior:innen die Frage „Länger leben – wovon eigentlich?“ stellt, so ist das Teilen doch auch ein netter Trend und eine Lösung in und durch Netzwerke geworden und Zugang zum Kinofilm lässt sich finden.
So kommen große, teils dramatische Geschichten daher: Was passiert auf Reisen, wenn man den Flieger verpasste, weil man sich in einer fremden Stadt verlief und die Reisegruppe aus den Augen verlor? Möchten sie mit Ihren betagten Wohnfreunden immer wieder den schon lange verstorbenen Hund suchen gehen oder den alten Jugendfreund das Haus durch Badewasser überschwemmen lassen? Möchten sie bevormundet werden und mit kaum gesprächsfähigen Mit-Alten im Wohnheim leben und dort faktisch eingesperrt sein und kulturell und seelisch verkümmern? Möchten sie trotz hoher sportlicher Leistungsfähigkeit auf ihre Muckis verzichten oder doch am Marathon teilnehmen (Sein letztes Rennen, 2013)? So vielfältig die Themen, so vielfältig die Lösungen und Happyends oder dramatischen Ausgänge der Filmstorys, die wir erzählt bekommen. Humor mit Gebiss ist ironisch und auch immer im Spiel!
Und welche Typen werden als Hauptfiguren gezeigt? Alte motzige Kerle, die rostig und dennoch voller Tatendrang trotz mangelnden Kapitals an die Gründung einer WG gehen (Alte Jungs, 2017) wie auch in „Alleine war gestern“ (2015), das die möglichen Schicksalsschläge beim Gründen einer WG nicht verhehlt und dramatisiert. Auch Jane Fonda und Robert Redford, die als zwei verwitwete Nachbarn zu einer sexuellen Beziehung finden (Unsere Seelen bei Nacht, 2017) oder die Alten aus „Jetzt oder nie“ (2000), die uneingeschüchtert von Gesetzen ihre Skatkasse aufbessern möchten. Oder auch „Enkel für Anfänger“ (2020), in dem Alte die Kinder der Generation ihrer eigenen Kinder ernst nehmen und Chaos am eigenen Leben erzeugen.
Allesamt bisher unerfüllte Träume, Flucht vor einer unwirtlichen neuen Wirklichkeit der Verwaltung und Abschiebung der Alten, gewachsen aus schon lange bröckelnden Familienbanden, in noch so teure Gegenden, Wut im Bauch über nicht akzeptierte erlittene Lebensnachteile, nachgeholte Wunscherfüllung wider die Klischees von Kindern, Verwandtschaft und Nachbarn. Allesamt also das Beste, was Kino bietet, nämlich Geschichten, die nur das Leben selbst schreiben kann: krass, herzergreifend, verstehbar, aber auch widersinnig, Glück verheißend, überraschend, sonderlich wie das Altern, voller Schocks in Folge …
Und da schreitet das Leben vor sich hin, im Film anschaulich purzelnd in einen noch nicht begreifbaren Zustand. Das Leben überschlägt sich sobald die Alten mit ihren latenten Träumen und Resistenzen zusammenkommen und dem Drang des jungen Alters nachgeben. Der Kontrast zwischen fragiler Jugendlichkeit, dem Drauflosmachen und der Endlichkeit, Einfachheit und Beschränktheit der Optionen erzeugt schon Spannung alleine, aber die Alten in den Filmen treiben es noch weiter und Dritte werden involviert, die fassungslos dagegenhalten oder naiv mitwirken.
Einer dieser Filme aus den 2000er hat mich sehr beeindruckt, weil es um das Lernen und das Muthaben des Zugestehens und des ausdrücklichen Ansprechens der Einsamkeit im Alter geht. Das sich Stellen der drängenden Sehnsucht nach einem Partner oder einer Begleiterin, das in der Halböffentlichkeit eines Speed Datings stattfindet und dabei die Spannung auszuhalten, etwas zu sagen beim Blick in ein von Falten umspieltes fremdes Augenpaar in weniger als einem Meter körperlichen Abstands, und den Abstand wahren zu können, so lange man „d a s Kreuzchen“ auf dem Fragebogen nach der Veranstaltung und die Auswertung durch den Veranstalter nicht erhalten hat. Ich meine den Film „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ aus dem Jahr 2014, in dem auf den ersten Blick kaum passende Paare zusammenkommen, um sich neben einer Bar in einer Runde kleiner Tische auszutauschen unter Mitmenschen, die sich des Wünschens bei den jeweilig wechselnden Tischpartnern genau bewusst sind und an sich zweifeln könnten, weil der Andere dem eigenen Typprofil nicht entspricht. Bei diesem eher ruhigen feinfühligen Film, sollte man nicht einschlafen, denn erst in den letzten Filmminuten wird die Auflösung des Rätsels – Wer mit wem – durch kurze Szenen gezeigt!
Spielorte im Wedding
In unserem Stadtteil gibt es einige Orte, die lustige Seniorenfilme bieten und mit originellen Themen überraschen. Sogar Dachterrassen-Kino und das Freiluftkino Rehberge (je Mai bis September) sind dabei, aber auch hier und dort werden die großen alten Brandmauern für Vorführungen genutzt. Eine dieser Adressen ist Ungarnstraße 83 (Siedlung Schillerhöhe, nahe Haltestelle H Osramhöfe), wo sich ein Dachgarten in der 4. Etage als ständiger Seniorentreff befindet. So zeigte die GESOBAU in Schillerhöhe Ende August 2023 in luftiger Höhe unter Sternen den intergenerationellen Film „Frühstück bei Monsieur Henri“ (2015), eine Tragikomödie über eine junge Studentin und einen alten Herrn Henri.
Vielleicht werden es noch mehr dieser Orte und Seniorenfilmangebote werden. Vielleicht als ein regelmäßiges Ritual zu einer bestimmten Zeit, so dass es sich herumspricht. Und man sollte ab der Sommersaison auf die ausgelegten Flyer und Newsletter achten.
Zum Weiterlesen
- Das Filmprogramm des City Kino Wedding versammelt ganz verschiedene Geschichten aus dem Bereich des Arthousekinos. Das aktuelle Programm findet sich online: www.citykinowedding.de
- Das Cineplex Alhambra an der Ecke Müller- und Seestraße zeigt beim “Film Cafe” immer Mittwoch einen besonderen Film – mit Kaffee und Kuchen. Kuchen am 14 Uhr, Film ab 15 Uhr. Das Programm findet sich auf der Webseite des Alhambra: Film Café
- Im Sinema Transtopia in der Lindower Straße gibt es auch regelmäßig ein interessantes, transnationales Programm: Sinema-Programm
- In den Sommermonaten lohnt ich auch ein Blick ins Programm des Freiluftkinos Rehberge
- Weitere Kinos außerhalb des Wedding: Kinos in Berlin