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Wo sind Menschlichkeit und Toleranz im Straßenverkehr geblieben:
Ist das noch mein Wedding?

16. Juli 2024
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Hass und Gewalt sind in sozia­len Netz­wer­ken eben­so an der Tages­ord­nung wie drau­ßen auf den Stra­ßen. Das hat mit Mei­nungs­frei­heit nichts mehr zu tun, vor allem, wenn es um Men­schen­le­ben geht.

Am Don­ners­tag in der Bött­ger­stra­ße. Ein zwei­fa­cher Vater wird ersto­chen, weil er einen Park­platz blo­ckiert haben soll. Das Opfer hat­te einen Mer­ce­des Vito gekauft und fährt in die Stra­ße am Gesund­brun­nen, um ihn sei­nen Kum­pels zu zei­gen. Als der Mit­ar­bei­ter einer Piz­ze­ria ein­par­ken will, passt er nicht in die Park­lü­cke. Er steigt aus, doch der Fah­rer eines schwar­zen Jeeps will selbst dort par­ken. Es kommt zu einem Streit, bei dem der Vito-Fah­rer ein Mes­ser in den Bauch gerammt bekommt und im Kran­ken­wa­gen an sei­nen Ver­let­zun­gen ver­stirbt. Wegen einer Parklücke!

Hier hat sich ein Rechts­ab­bie­ger ille­gal auf die Bus­spur gemo­gelt und bedrängt einen Radfahrer

An der Amru­mer Stra­ße wur­de der rech­te Fahr­strei­fen als Rad­spur aus­ge­wie­sen (lei­der nicht auch als Bus­spur). Die vor­her lebens­ge­fähr­li­che Stre­cke ist jetzt für gro­ße und klei­ne Rad­fah­rer sicher. Es stimmt: Wenn ich dort ein­mal mit einem Auto ent­lang­fah­re, muss ich im Berufs­ver­kehr ein paar Minu­ten län­ger im Stau ste­hen. Manch­mal reißt Fahrer:innen der Gedulds­fa­den und sie fah­ren am Stau vor­bei, obwohl die Stre­cke von vie­len Fahr­rä­dern befah­ren wird. Ich beob­ach­te dort häu­fig, dass Ein­satz­wa­gen die brei­te Spur eben­falls nut­zen kön­nen, um Leben zu ret­ten und schnel­ler zu den Opfern zu kom­men als frü­her. Auf unse­rer Face­book­sei­te wird gewet­tert, dass Autos jetzt eini­ge Momen­te län­ger für die Stre­cke brau­chen – dass Fahr­rad­fah­rer jetzt wesent­lich gefahr­lo­ser durch­kom­men, inter­es­siert die Mecke­rer natür­lich nicht. Ihr Zeit­ver­lust wiegt eben schwe­rer als geret­te­te Leben.

An der mit Pol­lern nur unzu­rei­chend gesperr­ten Kreu­zung Stet­ti­ner Stra­ße / Bel­ler­mann­stra­ße schie­ben Autofahrer:innen regel­mä­ßig die pro­vi­so­ri­schen Absperr­ba­ken weg, um Selbst­jus­tiz zu üben und eine ihnen ver­hass­te Ver­kehrs­re­ge­lung zu sabo­tie­ren. Als wir ein ent­spre­chen­des Bild auf X gepos­tet haben, kom­men­tiert dies eine Use­rin bewun­dernd mit „Zivil­cou­ra­ge“. Hal­lo? Seit wann ist ein Regel­ver­stoß etwas, was beju­belt wird? Nur weil einem eine Rege­lung nicht passt, muss man scham­lo­ses Unrecht nicht loben.

Bake weg und ab durch die Pol­ler­sper­re – auch Auto­fah­rer igno­rie­ren Ver­kehrs­re­geln! Foto: S. Orsenne

Jetzt sind end­lich die letz­ten Meter des Rad­weg­pro­jekts Mül­lerstra­ße auf Höhe der See­stra­ße fer­tig­ge­stellt wor­den, nach­dem die BVG den Bau­zaun am U‑Bahnhof ent­fernt hat. Die brei­te Spur dient auch den Bus­sen der Linie 120 als Bus­spur, Rad­fah­rer dür­fen sie eben­falls nut­zen, um sich nicht in die Auto­spu­ren ein­ord­nen zu müs­sen. Hier bricht sich auf Face­book der Hass auf den Rad­ver­kehr end­gül­tig Bahn. Die Spur sei zu breit, man müs­se jetzt im Stau ste­hen des­we­gen. Aha. Bus­fahr­gäs­te und Rad­fah­rer sol­len also wei­ter­hin benach­tei­ligt wer­den, nur damit eini­ge weni­ge Leu­te, die zumeist allein in ihrer Blech­kis­te sit­zen, wie immer ein­fach schnel­ler durch­kom­men? Hat der Respekt vor dem Leben und der Lebens­zeit ande­rer gar kei­ne Bedeu­tung mehr in unse­rem Stadtteil? 

Ich bin sehr ent­täuscht von den har­schen Kom­men­ta­ren eini­ger weni­ger Unbe­lehr­ba­rer, die erst vom Auto­fah­ren in der Stadt las­sen, wenn auch der letz­te Eis­berg geschmol­zen ist. Ich wünsch­te, es wür­de auch weni­ger Pol­ler brau­chen, wenn sich die moto­ri­sier­ten “Gewalt­tä­ter” an Recht und Gesetz hal­ten wür­den. Mes­ser zücken wegen eines Park­plat­zes? Unver­ständ­nis für alle, die sich umwelt­freund­lich mit BVG oder Fahr­rad fort­be­we­gen? Hass aus­kip­pen wegen einer Umwelt­spur? Wohin die­se Ent­wick­lung führt, sehen wir gera­de in den USA. Für den Moment stel­le ich fest: Das ist nicht mehr mein Wedding.

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

15 Comments

  1. In der Mül­lerstr. gibt es kei­ne! Busspur.
    Die Mar­kie­rung ist nur im Bereich der Hal­te­stel­le, da dort der Geh­steig ver­brei­tert wur­de und die Hal­te­bucht damit nicht mehr vor­han­den ist.
    Die Bus­se müs­sen sich somit auch auf der ein­zi­gen ver­blie­be­nen Fahr­spur durch den Stau quälen.

  2. Trau­rig aber wahr, der Bericht. Ich wun­de­re mich auch regel­mä­ßig dar­über, wie­viel Stras­sen­raum die Autos ein­neh­men. Wie oft nur eine Per­son im Auto sitzt. Es ist kei­ne men­schen­wür­di­ge Ver­kehrs­po­li­tik, wenn der Schwä­che­re, wie Alte, Kin­der oder ein­fach lang­sa­me­re Teil­neh­mer nicht berück­sich­tigt wer­den. Ein­fach mal nur beob­ach­ten, ob sich Kin­der im Wed­din­ger Ver­kehr allei­ne sicher füh­len kön­nen. Ja?

  3. Ich fin­de die Maß­nah­men zur Ver­bes­se­rung der Situa­ti­on der Rad­fah­rer im Wed­ding (aber auch andern­orts) pri­ma. Bit­te mehr davon!

  4. hi,
    wir müs­sen uns wohl vom Gedan­ken des “Gemein­wohls”, vom Gedan­ken, wir “ach­ten auf ande­re”, ja vom Kant­schen Impe­ra­tiv ent­fer­nen und den Mecha­nis­mus ein­set­zen, den die nun­mal kom­mer­zi­al­li­sier­te Gesell­schaft ver­steht: Geld regiert die Welt… also. MAut­ge­büh­ren für die Stadt, auto­ma­ti­sche Ver­kehrs­über­wa­chung mit Kame­ras, deut­li­che höhe­re Buss­gel­der, Füh­rer­sper­ren, ggf. Fahrzeugbeschlagnahmung.

  5. Viel­leicht soll­ten wir alle mal ler­nen, auf­ein­an­der Rück­sicht zu nehmen!
    Die Auto­fah­rer auf die Rad­fah­rer, die Rad­fah­rer auf die Fußgänger!
    Alle beneh­men sich lei­der zuneh­mend rücksichtslos!
    Und das ist das größ­te Problem!
    Weni­ger ich und mehr wir, wäre doch mal ein Anfang oder?

  6. Also mit einem Blog hat die­se pure Pole­mik nichts mehr zu tun. Ist ok, kann man machen, aber sich über “har­sche Kom­men­ta­re” ent­täuscht zei­gen, wäh­rend man selbst gna­den­los über­zeich­net, Din­ge zusam­men­wirft, die nichts mit­ein­an­der zu tun haben hal­te ich dann für schlicht wohl­feil und und ziem­lich unredlich.

    • Dan­ke, O. Lem­ke – dies war auch mein ers­ter Gedanke!
      Wäre man bös­wil­lig, könn­te man sogar unter­stel­len, dass die aktu­el­le Ver­kehrs­po­li­tik der Grü­nen im Senat zu sol­chen Aktio­nen wie in der Bött­ger­str. führt.
      Je mehr Park­plät­ze ent­fal­len und je mehr die Auto­fah­rer in der vor­lie­gen­den Form (Bsp. Amru­mer Str.) gegän­gelt wer­den, des­to höher steigt auch das Aggres­si­ons­po­ten­zi­al eini­ger Fah­rer! Dass dies nicht akzep­ta­bel ist, steht außer Fra­ge – aber man schwa­dro­niert doch immer über Ursa­chen­be­kämp­fung! Flie­ßen­der Ver­kehr und Schaf­fung von Park­raum wäre doch schon mal ein Anfang!

      • Hal­lo Jupp, das ist ein ziem­lich klein­geis­ti­ger Kom­men­tar, sowas kannst du doch sonst bes­ser. Bestimmt ist es der Fami­lie des Opfers ein Trost, dass die “Ver­kehrs­po­li­tik” schuld ist, nicht der Typ mit dem Messer.

      • “Wäre man bös­wil­lig…” Für die­sen Kom­men­tar soll­ten Sie sich schämen. 

        Wir brau­chen außer­dem nicht mehr Park­raum, son­dern weni­ger Autos. Dann sind auch die vor­han­de­nen Plät­ze mehr als ausreichend.

      • Wenn man nicht mal das klei­ne 1×1 der Ber­li­ner Poli­tik beherrscht, soll­te man viel­leicht ein­fach mal sei­ne Klap­pe hal­ten. In wel­chem Senat sind denn gera­de die Grü­nen? Wohl kaum in Berlin.

      • Durch Tem­po­li­mit, Bus­spu­ren, weg­fal­len­de Park­plät­ze und Pol­ler sol­len nicht “Auto­fah­rer gegän­gelt”, son­dern ledig­lich öffent­li­ches(!) Stra­ßen­land einer ande­ren Nut­zungs­grup­pe zur Ver­fü­gung gestellt wer­den. Da sieht man wie­der die Anspruchs­hal­tung von KFZ-Nut­zern: Die Stra­ße gehört mir, mir, mir – und wenn mal ande­re Leu­te ein biss­chen von dem, was ich so selbst­ver­ständ­lich als mein natur­ge­ge­be­nes Recht ans­se­he, abbe­kom­men, dann ist das der Unter­gang des Abendlandes.

        Im übri­gen, für alle Befür­wor­ter des flie­ßen­des Auto­ver­kehrs: Der Stau seid ihr selber.

  7. In unse­rer Wohn­stra­ße im Brun­nen­vier­tel (Use­do­mer Stra­ße) hält sich der Groß­teil der Fah­rer nicht an die 30 km/h Gren­ze. Nachts wird die Stra­ße zur Renn­stre­cke, in der hoch­mo­to­ri­sier­te Autos hin und her fah­ren und „Rock­ford-Brem­sen“ üben. Eine dies­be­züg­li­che mail an die zustän­di­ge Abge­ord­ne­te des Bezirk blieb unbeantwortet.
    Und lei­der tref­fen die oben geschil­der­ten Zustän­de nicht nur auf den Wed­ding zu son­dern auf alle Stra­ßen Ber­lins. Auto­fah­rer hal­ten sich auch am Kudamm nicht an Geschwin­dig­keits­gren­zen, bret­tern rück­sichts­los deut­lich mehr als 50 km/h dort lang, über­fah­ren rote Ampeln und bedrän­gen Rad­fah­rer. (hier wären beson­ders auch Taxi­fah­rer zu nen­nen, die die gemein­sa­me Bus­spur mit Rad­fah­rern nut­zen dürfen)
    Deutsch­land ist Auto­land und Ber­lin ist Auto­stadt. Da müss­te ein Men­ta­li­täts­wech­sel auf allen Ebe­nen her, das hal­te ich der­zeit für aus­ge­schlos­sen. Scha­de, Paris macht vor, wie es bes­ser geht.

  8. Wir müs­sen uns immer bewusst machen dass Auto­fah­rer in Ber­lin eine Min­der­heit sind (33% aller Ein­woh­ner). Eine Min­der­heit die allen ande­ren extrem hohe Kos­ten ver­ur­sacht, Schmutz und Staub ver­ur­sacht, Raum weg­nimmt, Lärm macht, krank macht, und jeden ganz direkt gefähr­det, sogar und beson­ders par­kend. Und alles betrifft doch auch sie selbst. Ich wer­de nie begrei­fen war­um wir das als Gesell­schaft ein­fach so hin­neh­men. Die­se Stadt könn­te so lebens­wert sein. Japan und die Nie­der­lan­de machen es vor. War­um sind so vie­le gegen Lebens­qua­li­tät? War­um ver­wei­gert man sich der beleg­ten Erkennt­nis das mehr Auto­in­fra­struk­tur nie zu mehr Ent­las­tung führt son­dern zu mehr Ver­kehr? Das kann wohl nur die Psy­cho­lo­gie erklären.

    • Die Rück­sicht­nah­me auf die Auto­fah­rer ist akti­ver Min­der­hei­ten­schutz 😉 Ich wünsch­te nur, dass auf ande­re Min­der­heit­ne ähn­lich acht gege­ben würde.

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