Im Jahr 2009 war die Berliner Gustav-Falke-Grundschule in Wedding/Gesundbrunnen am Ende. Nur noch 340 Kinder lernten in dem hübschen Backsteingebäude, spielten auf dem verwinkelten Schulhof mit dem vielen Grün. 95 Prozent von ihnen waren nicht deutscher Herkunftssprache, wie es im Beamtendeutsch heißt. Der Wedding ist ein armer Stadtteil – und die Gustav-Falke-Grundschule galt als typische Problemschule im typischen Problemkiez. Wer konnte, schickte seine Kinder woanders hin.
So wie ihr ging und geht es noch heute vielen Schulen in Vierteln, die unter jungen Besserverdienern als angesagt gelten. In Neukölln oder im Wedding leben? Cool! Aber wenn die Kinder in die Schule sollen, dann kommen die Bedenken: Ist es wirklich gut für meine Emma, wenn sie mit lauter Cems und Ayşes in einer Klasse sitzt? Viele bildungsbewusste Eltern geben ihre Kinder lieber in Privatschulen, lassen sich Tricks einfallen, um einem anderen Schulsprengel zugewiesen zu werden oder ziehen weg – auch solche, die selbst einen Migrationshintergrund haben.
Die Gustav-Falke-Grundschule stand deswegen 2009 kurz vor der Schließung. Insofern ist es erstaunlich, was Besucher dort im Jahr 2016 erleben. An einem Dienstagvormittag spricht Lehrer Oliver Fromm mit den Klassen 1g und 2g über Pferde. Um ihn drängen sich Ilkan, Can, Fynn und Elina. Sie halten Bastelbücher in den Händen, in denen sie Pferde ausmalen und beschriften sollen: Wie sehen sie aus? Wie leben sie? Was essen sie? Wie verhalten sie sich? Jeder Erstklässler hat einen Zweitklässler als Partner, der eine malt etwas mehr, der andere schreibt.
Das “Nawi-Programm” soll die Rettung bringen
Dass Ilkan, Can, Fynn und Elina heute hier zusammen lernen, liegt an einem Programm, welches für die Gustav-Falke-Grundschule die Rettung bedeute. Davon erzählt Schulleiterin Sabine Gryczke. “Wir hatten 2009 eine imaginäre Mauer im Schulsprengel”, sagt sie. Diese Mauer verläuft entlang der früheren Berliner Mauer an der Bernauer Straße. Auf der einen Seite wohnt typisches Weddinger Klientel: viele Migranten und Sozialleistungs-Empfänger. Und auf der anderen Seite finanzstarke Bildungsbürger.
“Gute Schüler könnten verloren gehen”
Sie wollten ihre Kinder partout nicht hierherschicken, gründeten sogar eine Bürgerinitiative. “Also haben wir uns mit ihnen hingesetzt und gefragt: Was müssen wir tun, damit ihr unsere Kinder zu uns schickt?”, erzählt Gryczke. Die Eltern bestanden auf einem deutschen Sprachumfeld, einer besonderen naturwissenschaftlichen Förderung und Englischunterricht ab der ersten Klasse. Die Schulleitung willigte ein, 2010 gab es die erste sogenannte “Nawi-Klasse”. In einer von ihnen lernen heute auch Ilkan, Can, Fynn und Elina. Dafür mussten sie den “Bärenstark-Test” bestehen, der Sprachkenntnisse bei Vorschulkindern abfragt. Vorbehaltlos gut kam diese Initiative nicht an, sagt Gryczke: “Es war ja das Jahr der Sarrazin-Debatte. Uns wurde vorgeworfen, wir würden reine ‘Deutschen-Klassen’ einrichten wollen.” Auch einige Lehrer waren nicht begeistert: “Sie befürchteten, dass ihnen durch die Nawi-Klassen auch noch die wenigen guten Schüler in den anderen Klassen verloren gehen würden.”
Gryczke, die damals noch nicht Schulleiterin, sondern Lehrerin war, kann diese Vorwürfe nicht nachvollziehen. Die Frau mit den wilden roten Locken ist selbst im Wedding aufgewachsen, hat dessen Wandel vom Arbeiter- zum Problemviertel mitbekommen – und hat sich eine pragmatische Sicht auf die Dinge angeeignet. “Wir haben mit den Nawi-Klassen Kinder gewonnen, die sonst niemals zu uns gekommen wären”, sagt sie. Reine “Deutschen-Klassen” seien ohnehin nicht entstanden. “In der ersten Nawi-Klasse hatten wir elf verschiedene Ethnien.”
Die Vorwürfe an ihr Programm empfindet sie als kurzsichtig. “Es ist doch seltsam, dass wir als Nazis beschimpft werden – sich aber niemand daran stört, wenn reiche Leute in ihren Vierteln unter sich bleiben.” Auch Lehrer Oliver Fromm, ein großer, kräftiger Mann mit schulterlangen Locken, ist genervt von dem Gerede um deutsche Eliteklassen. “Das sind ganz normale Kinder”, sagt er. Manche hätten deutsche Eltern, manche eben nicht.
Schulleiterin Gryczke ist eines besonders wichtig: Eltern wollten immer nur das Beste für ihr Kind – und zwar ganz egal, welchen kulturellen Hintergrund und welches Einkommen sie haben. Daher war für die Schule klar, dass sich das Augenmerk nicht nur auf die Nawi-Klassen beschränken darf. Sie etablierte ein umfangreiches Sprachförderungsprogramm, in das die Kinder je nach Vorkenntnissen eingestuft werden. Auch den Englischunterricht ab der ersten Klasse gebe es für alle.
Das Wichtigste aber war, dass das Nawi-Programm in der Schule einen richtigen Innovationsschub ausgelöst hat”, sagt Gryczke. Die Schulleitung habe die ganze Einrichtung nach Schwachstellen abgeklopft. Die Lehrer hätten viele Fortbildungen gemacht, die Schule kooperiert mit Fußballvereinen und Museen. “Wir waren zum Erfolg verdammt”, sagt sie. “Niemand gibt sein Kind in ein Experiment mit ungewissem Ausgang.”
Blick über das eigene Milieu hinaus
Heute ist der Anteil der Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache auf 77 Prozent gesunken. Nur noch 65 Prozent von ihnen erhalten eine Lernmittelbefreiung – haben also Eltern, die zu wenig Geld verdienen, um selbst für das zu bezahlen, was in der Schule so anfällt. “Das ist schon eine viel bessere Mischung als 2009”, sagt Gryczke. Das heiße natürlich nicht, dass die imaginäre Mauer in den Köpfen schon vollkommen verschwunden ist. “Es ist ein unrealistischer Traum, dass sie immer alle an einen Tisch kriegen”, sagt sie. Es gebe Angebote, die ein bestimmter Teil der Elternschaft mehr und ein anderer weniger annimmt. “Wenn wir Schulfeste feiern, dann kochen besonders die türkischen und arabischen Mütter auf. Wenn es um eine Kunstauktion im Museum geht, sind andere Eltern aktiver.” Gryczke findet das in Ordnung. “Es reicht, wenn gegenseitiger Respekt da ist.”
Und sie beobachtet, dass sich auch bei den Eltern der deutschsprachigen Kinder die Erkenntnis breitmache, dass ein Blick über das eigene Milieu hinaus ihre Söhne und Töchter klüger macht. “Da können Anna und Paul wichtige Soft Skills lernen”, sagt Schulleiterin Gryczke und lacht. “Weltoffenheit ist mehr, als mal auf dem Straßenfest Falafel zu essen.”
Autorin: Hannah Beitzer
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in längerer Form in der Süddeutschen Zeitung.
Es ist großartig zu sehen, wie Bildungsinstitutionen dazu beitragen, Grenzen zu überwinden und jungen Menschen eine hervorragende Ausbildung zu bieten. Die Geschichten und Einblicke, die ihr geteilt habt, sind berührend und ermutigend. Danke, dass ihr solche positiven Beispiele hervorhebt und uns daran erinnert, wie wichtig Bildung und Integration sind.
Mit freundlichen Grüßen,
Carsten
Widerwärtiger Bildungsbürgermist. Dann sollen Emma und ihre Eltern doch nach Zehlendorf ziehen.
[…] Gustav-Falke-Grundschule im Brunnenviertel hat eine Profilklasse mit dem Schwerpunkt auf Naturwissenschaften eingerichtet: […]
Danke für diese Arbeit!