Dieses Jahr gibt es bei uns Geschichten zur Weihnacht. Den Anfang macht Brauseboy Frank Sorge mit einem vermeintlichen Zusammenstoß der Religionen auf der Seestraße.
Heiligabend, ein Uhr nachts. Ich ging die Seestraße hinauf, aber an meiner Wohnung vorbei. Ich musste noch gucken, ob bei Heikos Echsen nebenan das Licht aus war. Wenn das Licht noch nicht aus war, würde ich das Licht ausmachen. Normalerweise wurde das von Zeitschaltuhren erledigt, die hatten aber einen extrem hohen Krankenstand, deshalb brauchte es einen Nachtwächter. Da der eigentliche Nachtwächter für ein paar Tage außerhalb der Stadt war, brauchte es einen Ersatznachtwächter. Ich war der Ersatznachtwächter.
An der Ampel über die Lüderitzstraße winkte mir ein junger Mann, ob ich eine Zigarette für ihn hätte, er würde sie auch bezahlen. In seiner Handfläche lag eine gelbe Münze.
„Ich habe nur Drehtabak.“
„Is egal, kann ich auch drehen.“
„Schon okay, kein Problem“, sagte ich und wühlte den Tabak aus der Tasche, „aber ich will kein Geld.“
Er war empört: „Ey, komm mir nicht so, wenn du mein Geld nicht nimmst, fühle ich mich schlecht. Das geht nicht, du musst das Geld nehmen, weißt du? Ich hab hier gutes Geld und wenn ich es dir nicht gebe, Alter, dann fühl ich mich wie ein Penner, weißt du?“
20 Cent. Na, wenn er unbedingt wollte.
„Weißt du schon, meine ich nicht so mit Pennern, aber hey: Du musst unbedingt das Geld nehmen, weißt du?“
Ich gab ihm ein Blättchen und eine Tabakfüllung.
„Du bist voll freundlich, ich danke dir, Mann.“
„Kein Problem.“
Er streckte die Hand aus, wir schüttelten, dann kam er wieder näher.
„Weißt du, ich bin auch nicht so hier so ein Muslim oder so.“
„Okay.“
„Nein, weißt du, ich glaube nicht daran, ist doch alles Scheise, guter Muslim, son scheise Allah.“
Er würgte den Namen des Gottes von ganz unten hoch, es war eindeutig Gotteslästerung.
„Nein, weißt du, glaube ich wirklisch nicht so Scheise, ich bin Christ!“
Um Himmels willen, dachte ich.
„Ich glaube an Jesus, weißt du?“
Sprachlosigkeit auf meiner Seite. Aber jeder musste seine eigenen Erfahrungen machen, dachte ich nur, und wer Allah aus dem Kopf geräumt hatte, konnte es auch mit Jesus aufnehmen. Dann schüttelte er zum dritten Mal meine Hand.
„Ey, pass gut auf dich auf, Mann, sind eine Menge komische Leute hier, weißt du? Mansche voll krank, aber weißt du, bin ich so froh, dass du so korrekte Typ bist, ey. Können wir hier einfach so reden, keine Probleme, andere sind nicht so, weißt du?“
„Ich weiß.“
„Frag ich nach eine Zigarette, gehen sie gleich weg so, schnell weg, nur Beispiel, aber du bist nicht so, ich wünsche dir eine gute Nacht, weißt du, ist so viele Scheiße, aber musst du immer Hoffnung haben“, er pochte auf seinen Oberkörper in Herzgegend, „wir sind alle gleich, Mann! Weißt du, wie wir: Stehn so und quatschen und alles ist okay. Entschuldige, wenn ich so rede, aber meine ich so, verstehst du schon. Du siehst halt so besser aus und so, pass auf weißt du? Komm, ich geb dir noch mal die Hand, will dir nicht Zeit stehlen, aber du bist so voll korrekt. Ich danke dir für deine Freundlichkeit, Habibi. “
Er schüttelte wieder meine Hand. „Weißt du, ich bin Christ!“
„Ich bin Atheist“, sagte ich.
„Ist noch besser“, sagte er.
Ich ging die Seestraße weiter, er in die andere Richtung. Er winkte.
Bei Heiko schaute ich kurz in den Hof Richtung Schuppengetier. Die Heilige Nacht war in vollem Gange, für Echsen und Menschen zugleich.
Autor: Frank Sorge
Erschienen in ‚Brunnenstraße 3, Berlin’. Eichborn 2011.
Alle Ehrenamtlichen des Weddingweisers wünschen den Leserinnen und Lesern ein schönes Weihnachtsfest!